Mit dem Festival „Hochstapeln“ setzt das Literaturhaus Stuttgart seine Erkundung der Leistungsgesellschaft fort. Am Freitag wird der dreitägige Veranstaltungsreigen eröffnet. Die Leiterin Stefanie Stegmann erklärt, warum wir meist gern mehr sein wollen, als wir sind.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wenn man jemand nicht mit Täuschung und Größenwahn in Verbindung bringen würde, dann die Chefin des Literaturhauses, Stefanie Stegmann. Seit knapp drei Jahren strahlt ihr Programm mit aufregender intellektueller Qualitätsarbeit immer wieder über den Kesselrand hinaus. Oder täuschen wir uns da etwa?

 
Frau Stegmann, haben Sie schon einmal geblufft?
Wenn Sie mich zu allen Autorinnen und Autoren unseres Festivals befragen würden, würden Sie relativ schnell merken, dass ich zwar über alle Texte informiert bin, viel gelesen habe, aber nicht alle vollständig kenne. Im schlimmsten Fall würde ich nun versuchen, das vor Ihnen zu verheimlichen und so zu tun, als wäre ich mit ihrem gesamten Werk aufs Intimste vertraut.
Ganz meinerseits, ich versuche natürlich nach Kräften durch meine Fragen so schlau wie möglich zu erscheinen. Sind wir nicht alle Hochstapler?
Am Anfang meiner Arbeit in der Literaturvermittlung war ich häufig versucht, zu bluffen, aus der Angst heraus, abgelehnt, nicht ernst genommen zu werden. Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass ich mich bei dem So-tun-als-ob so elend fühle, allein schon wegen der Furcht, überführt zu werden, so dass ich mir das abgewöhnt habe.
Sie sind ständig mit eitlen Wissenseliten konfrontiert, geht das überhaupt ohne Bluff?
Neulich saß ich nach der Lesung mit einem Autor und dem Moderator zusammen, und wir sprachen über Klassiker der Hochstaplerliteratur. Die beiden haben sich ziemlich fachsimpelnd unterhalten, plötzlich fragten sie mich etwas zum „Hauptmann von Köpenick“. Ich musste einräumen, nur den Film zu kennen und nicht das Stück. Beide schauten sich an. „Ich auch“, sagte erst der eine, dann der andere - und fügte aber noch hinzu: „Wir hätten es nur nicht gesagt“. Das hat die Situation erfreulich entkrampft, dergleichen habe ich schon oft erlebt, geschadet hat mir meine Offenheit bisher noch nicht.
Schwaben neigen in der Regel ja eher zum Tiefstapeln, wie sind Sie in Stuttgart auf die Idee eines Hochstaplerfestivals gekommen?
Tiefstapeln ist ja nur die andere Seite des Hochstapelns, mithin gar nicht weit davon entfernt. Dem Kleinmachen liegen natürlich auch Größenfantasien zugrunde. In dem Moment, in dem ich mich kokettierend klein mache, fantasiere ich zugleich das Gigantomanische. Insofern passt das Festival doch wie die Faust aufs Auge.
Ihre Festivals fügen sich zu einer Art Autopsie der Leistungsgesellschaft. Wie hängen Hochstapeln und Scheitern zusammen?
Noch in Freiburg haben wir mit einem Festival über Leistung begonnen, dann kam das Scheitern im letzten Jahr hier im Literaturhaus hinzu, nun das Hochstapeln. Der Hochstapler braucht das Moment des Scheiterns, um überhaupt als solcher identifiziert werden zu können. In einer Gesellschaft, die Beruf und Privates so sehr über Leistung definiert, hat es eine unbedingte Relevanz, über Hochstapelei, Täuschung und Selbstinszenierung zu sprechen.
Dass die Welt eine Bühne ist, wusste schon Shakespeare. Was ist daran modern?
Die Weise, wie sich westliche Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, begünstigt Praktiken, die wir auch mit einem Augenzwinkern aus der Perspektive des Hochstaplers in den Blick nehmen wollen. Wir erleben in vielen Bereichen eine gesellschaftliche Entsolidarisierung, soziale Belange geraten ins Hintertreffen, dafür rückt das Ich immer mehr in den Mittelpunkt. Wir wollen über das Festivalprogramm dennoch das Thema nicht skandalisieren und moralisieren. Aber uns interessiert: was macht diese neoliberale Selbstoptimierungspolitik mit uns, der zunehmende Zwang, etwas Großes darstellen zu müssen, vor meinem jeweiligen Gegenüber, meinem Chef, meiner Frau, meinen Kindern; welche Auswirkungen hat das für unsere Identität? Es ist übrigens interessant, dass wir kaum Frauen vor Augen haben, wenn wir über Hochstapler reden.