In den Hochwassergebieten auf dem Balkan gibt es keine Entwarnung. In Serbien wird sogar eine neue Flutwelle erwartet. Doch in der Not verhalten sich einst verfeindete Staaten solidarisch – eine Chance für einen Neuanfang der Beziehungen?

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Belgrad - Die guten Gaben belegen die 20 000 Sitzplätze in dem weiten Rund der Belgrader Arena bis auf den letzten Platz. Unzählige Helfer sortieren die in Serbiens größter Sporthalle angelieferten Säcke und Kartons mit gespendeter Kleidung, Konserven, Hygiene- und Baby-Nahrung nach Kleidergrößen und Funktion. „Die Leute wollen einfach helfen“, berichtet Jasmina Latinovic, im normalen Berufsleben Direktionsassistentin des Hallen-Managements und nun eine der Koordinatoren des Auffangzentrums. Über Twitter und Facebook würde der Einsatzstab wissen lassen, wo welche Hilfsgüter und helfende Hände benötigt werden: „Und die Leute kommen und kommen – zu Tausenden.“

 

Meist stumm und übernächtigt stehen die aus der überfluteten Provinzstadt Obrenovac evakuierten Hochwasser-Opfer vor den Essensausschänken um ihren Morgenkaffee an. Freiwillige Helfer mit Gesichtsmasken und Gummihandschuhen nehmen die Daten von Neuankömmlingen auf. Die meisten der 3000 in der Arena untergebrachten Evakuierten seien Frauen mit Kindern oder ältere Menschen, sagt Latinovic: „Viele stehen oft unter starkem Schock.“ Für die rund 1000 in Schichten rund um die Uhr eingeteilten Freiwilligen in der Arena sei es wichtig, sich von dem gehörten Leid „nicht überwältigen“ zu lassen: „Wir bitten die Leute, ihren Enthusiasmus zu dosieren – und einzuteilen, denn selbst wenn die Überschwemmung endet, wird noch lange Hilfe benötigt.“

Eine Welle der Hilfsgüter erfasst das Land

Nicht nur Heerscharen professioneller Rettungskräfte und Soldaten stemmen sich schon seit Tagen in den Hochwasserregionen von Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien gegen die Jahrhundertflut. Zehntausende freiwilliger Helfer schaufeln zur Stärkung aufgeweichter Fluss- und Straßendämme Sand in die Säcke. Maschinenbau-Studenten mutieren in den zahlreichen Notaufnahmelagern zu sorgenden Krankenpflegern. Hobbyfunker koordinieren die privaten Rettungsaktionen von mit ihren Booten in die Notstandsgebiete gereisten Anglern, Tauchern und Alpinisten.

Das Foto eines alten Greises in abgetretenen Sandalen, der weinend seine neuen Schuhe in eine Sammelstelle brachte, rührte trotz allen Elends die ganze Nation. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die das Land erfasst hat, ist nicht nur an den Bergen der Hilfsgüter in der Arena, sondern auch am Kontostand der zahlreichen Spendenaktionen abzulesen. „Selbst Leute, die kaum etwas haben, bringen etwas vorbei“, berichtet die als freiwillige Kinderbetreuerin in der Arena arbeitende Pädagogikstudentin Natasa: „Alle wollen helfen. Im Krieg und in der Not stehen wir eben doch zusammen.“

In Bosnien ist ein Viertel der Bevölkerung betroffen

Erst die UN-Sanktionen während der Jugoslawienkriege, dann die Flüchtlinge und die Bombardierung durch die Nato – und „nun das Hochwasser –, uns bleibt nichts erspart“, sagt der Schmied am Belgrader Kalenic-Markt: „Aber das halten wir auch noch durch.“ An die Schrecken des von 1992 bis 1995 währenden Bosnienkriegs fühlen sich auch die Hochwasseropfer im Nachbarland erinnert. 700 000 bis 900 000 Landsleute hätten zumindest zeitweilig ihre Häuser räumen müssen, sagt Bosniens stellvertretender Katastrophenminister Samir Agic: Das Hochwasser habe direkt oder indirekt fast ein Viertel der Bevölkerung betroffen.

An den Zuflüssen der Save in Bosnien wird mittlerweile zwar bereits mit den Aufräumarbeiten begonnen, aber nicht nur weil in Serbien nun der Pegelstand der Donau zu steigen beginnt, kann von einer Entwarnung in den Hochwasserregionen noch keine Rede sein. Die Überschwemmungen und die darauffolgenden Erdrutsche haben in Bosnien unzählige Minen freigelegt, Warnschilder und markierte Minenfelder abgetragen. Bosniens Zentrum zur Räumung von Minen mahnt vor allem nach Erdrutschen zu erhöhter Vorsicht: Am Dienstag wurden allein in der Region Prijedor drei freigelegte Landminen lokalisiert.

Selbst einstige Kriegsgegner helfen mit Spenden

Eine mehrtägige Staatstrauer für die offiziell bisher mehr als 40 Opfer riefen die Regierungen in Sarajevo und Serbien am Dienstag aus. Ob verwüstete Felder, Straßen und Brücken oder zerstörte Fabrikhallen, Ställe und Eigenheime: die Schäden sind noch kaum abschätzbar und dürften in die Milliarden gehen. Umso freudiger werden vor allem in dem jahrelang als „Pariastaat“ isolierten Serbien die Rettungsmannschaften, Hilfslieferungen und Spenden aus aller Welt und selbst von einstigen Kriegsgegnern registriert. „Wir sind nicht mehr allein“, freute sich zu Wochenbeginn die Moderatorin des Radiosenders B92.

Als offizieller EU-Beitrittskandidat kann Serbien auf Hilfszahlungen von bis zu einer Milliarde Euro aus dem Brüsseler Solidaritätsfonds rechnen, sobald die Schäden präzise aufgelistet worden sind. Komplizierter gestaltet sich der Zugriff auf EU-Hilfsgelder für Bosnien-Herzegowina, denn wegen der Selbstblockade seiner Politikerkaste ist der ethnisch zerrissene Vielvölkerstaat vom EU-Kandidatenstatus und von dem Zugang zu den Brüsseler Hilfstöpfen noch weit entfernt. Sowohl der Eingang der Hilfsgelder als auch deren Verwendung müssten wegen schlechter Erfahrungen vollständig offengelegt werden, fordert die serbische Sektion der Antikorruptionsorganisation Transparency.

Die Hochwasserkatastrophe sei einfach „schrecklich“, die Hilfsbereitschaft der Leute aber umso erfreulicher, sagt in Belgrad die Universitätsangestellte Nada: „Zumindest gibt es hier einmal eine positive Entwicklung.“ Die Chance für einen Neuanfang nicht nur in den Beziehungen zu den überraschend solidarischen Nachbarstaaten, sondern vor allem auch für das getrübte Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Staat, wittert die Belgrader Zeitung „Danas“. Das demonstrierte Mitgefühl mit den Opfern sei ermutigend. Die Frage sei jedoch, wie lange der Enthusiasmus anhalten werde: „Der Kampf gegen das Hochwasser wird relativ kurz währen, der Kampf gegen dessen Folgen jahrelang: Und genau das wird der härteste Test für den Staat, die Gesellschaft – und jeden von uns.“