Heiraten kommt nicht aus der Mode, aber die Mode ändert sich. Vergessen sind Puffärmel, Reifröcke und Polonaisen. Wer mit dem Zeitgeist gehen will, hat die Qual der Wahl: beim Heiraten ist fast alles erlaubt.

Stuttgart - Wenn man sich tief in die Etikette von Hochzeitsfeiern begibt, stößt man auf viele ungeschrieben Gesetze: Tüllkleid mit Puffärmeln, gemischter Braten mit Kroketten, Hochzeitsspiele, Diashow, Walzer, sich gegenseitig mit Torte füttern und Brautentführung waren über viele Jahre fester Bestandteil von Hochzeitsfeiern.

 

Wer heutzutage heiratet, und das ist in Stuttgart im Juni, Juli und September sehr häufig der Fall, wird mit Schlagworten wie destination wedding (das Ja-Wort an einem besonderen Ort), Gatsby, Öko, Märchen oder Wilder Westen (Motto für Kleidung, Dekoration und Essen) konfrontiert. Zumindest, wenn man dem Zeitgeist entsprechend feiern will. Da gibt es dann Bräute, die über Food Installations diskutieren (Nachtische hängen an Nylonfäden von der Decke) und über Marsala als dominierenden Ton beim Farbkonzept.

Im Jahr 2013 haben in Stuttgart 2511 Paare geheiratet und 96 die Lebenspartnerschaft begründet. 2014 waren es 2754 Paare (und 87 Lebenspartnerschaften). Obwohl die Jahrgänge immer geburtenschwächer werden, gehen die Eheschließungen in Stuttgart nach oben. Heiraten kommt also nicht aus der Mode, aber die Mode ändert sich.

Die Wahlfreiheit setzt viele Paare unter Druck

Derzeit ist fast alles erlaubt. Vom Picknick im Holzfällerhemd über Partys in Hosenträgern und Turnschuhen in brach liegenden Industrieanlagen bis zur noblen Feier in einem Schloss. Über Facebook und Fotonetzwerke wie Pinterest und Instagram werden täglich hunderte von Bildern hochgeladen, die romantisch und lässig aussehen, hinter denen aber oft viel Arbeit und Inszenierung steckt. Die vermeintliche Wahlfreiheit, die es heute bei Einladungsgestaltung, Lokalitäten, Outfits, Essen, Bespaßung und Motto gibt, macht die Entscheidung nicht unbedingt leichter.

„Manche Frauen werden dabei fast wahnsinnig“, sagt Yorgos Touloumenidis. Der Stuttgarter hat vor zwei Jahren mit Nicole Livaja die Agentur Eventkomponisten gegründet. Sie nennen sich zwar nicht Weddingplaner, kümmern sich aber um die Organisation von Hochzeiten und anderen Festen. Immer wieder lernen sie Paare kennen, die sich in dem Dschungel der In-spirationen verirrt haben. „Viele versteifen sich auf ein Motto, das sie irgendwo gesehen haben und vergessen dabei ihre Persönlichkeit und merken gar nicht, was viel besser zu ihnen passt“, sagt Yorgos Touloumenidis, der allen als erstes dazu rät, authentische Gastgeber zu sein. „Einer der größten Fehler ist, sich nur danach zu richten, was gerade in ist“, sagt Yorgos Touloumenidis.

„Aber wenn eine Frau schon immer von einem großen Blumenmeer geträumt hat, dann soll sie das natürlich haben. Dafür muss man aber bis zu 10 000 Euro in die Dekoration stecken.“ Andere würden mehr Geld ausgeben für regionales Bio-Essen, personalisierte Gastgeschenke, für die Fahrt in einem Oldtimer, für Videodokumentation oder Internetseiten als Einladungen. Im Schnitt geben deutsche Paare zwischen 10 000 und 15 000 Euro aus.

Standesbeamte kommen an den Wunschort

Dass heute anders geheiratet wird als noch vor zehn Jahren, merken auch die Standesämter. „Es wird immer größeren Wert darauf gelegt, die Eheschließung individuell zu gestalten“, sagt Verena Rathgeb-Stein, die Leiterin des Standesamts in der Eberhardstraße. Oft kommen Musik und persönliche Reden zum Einsatz.

Das Standesamt hat auf die Wünsche reagiert und bietet inzwischen Alternativen zum konventionellen Saal im Standesamt an. Stuttgarter Standesbeamte trauen Paare auch unter freiem Himmel. Derzeit geht das auf den Dachterrassen des Hauses Le Corbusier und des Rathauses sowie in der Soccer Lounge der Mercedes-Benz-Arena. Es gehen sogar selbst gewählte Wunschorte unter freiem Himmel – wenn sie die rechtliche Prüfung der Standesbeamten durchlaufen haben. „Die beliebtesten Orte sind das Neue Schloss, Schloss Solitude, das Rathaus mit Dachterrasse, die Wilhelma und der Kursaal in Bad Cannstatt“, sagt Verena Rathgeb-Stein.

Jeder Trend kommt irgendwann wieder

Einladung, Ort, Essen, Kleidung, Musik und Motto – überall hat man die große Auswahl. Kompakt kommt dagegen das Stuttgarter Netzwerk „Stop longing start loving“ daher. Hochzeitsdienstleister aus verschiedenen Bereichen haben sich hier zusammengetan. Dazu zählen die Grafikerinnen von Completely in Marriages, die von Einladungs- über Platz- und Menükarten alles gestalten und die Patisserie Tarte & Törtchen im Stuttgarter Westen, in deren Backstube Aline John aufwendige, aber auch schlichte Hochzeitstorten kreiert. Zu dem Netzwerk gehören auch Yorgos Touloumenidis und Nicole Livaja mit den Eventkomponisten, die Floristikwerkstatt Blattgold, Fotografen, Brautmodengeschäfte und Goldschmiede aus der Region.

Das Netzwerk verspricht, frei von Kitsch zu sein: ohne weiße Tauben und Tamtam – weil das gerade nicht angesagt ist. Wobei Yorgos Touloumenidis schon wieder Ausnahmen macht: „Kitsch kann auch toll sein, wenn er nicht langweilig ist.“ Man ahnt: auch in der Hochzeitsmode kommt jeder Trend irgendwann wieder. Nach dem nostalgischen Vintage-Stil der Zwanzigerjahre mit schmalen Kleidern und Hosenträgern, sind wahrscheinlich bald wieder Puffärmel und Reifröcke in.

Brautmode
In Stuttgart und Umgebung gibt es viele kleine und große Geschäfte für Brautkleider. An dieser Stelle werden zwei außergewöhnliche Läden vorgestellt.

Second -Hand
Die Braut, die sich nicht traut, findet manchmal den Weg nach Stetten (Leinfelden-Echterdingen) zu Melanie Schweizer. In ihrem Laden Trau Dich gibt es ausschließlich Kleider, die schon mal auf einer Hochzeit getanzt haben (oder eben fast – wie im Fall der Bräute, die kurz vorher kalte Füße bekommen haben). „Zu mir kommen geschiedene Frauen mit ihrem neuen Partner, aber auch junge Mädels, die in Tränen ausbrechen, weil sie Fehleinkäufe gemacht haben“, erzählt Melanie Schweizer. Diese können das Kleid bei ihr abgeben – und würden meistens glücklich den Laden verlassen, weil sie ein passendes und günstiges Kleid gefunden hätten.

Historisch
Schon mal getragen sind auch viele Brautkleider, die bei Doris Nothnagel in ihrem kleinen Laden All about dreams in der Stuifenstraße im Osten hängen. Besser als second hand passt aber hier der Begriff historisch: Manche Stücke sind fast hundert Jahre alt. „Aus den 40er Jahren habe ich kaum welche, weil da der Krieg war“, sagt Dagmar Nothnagel, „dafür aber aus den 20ern, 30ern und 50ern.“ Die Stuttgarterin, die Vollzeit in der IT-Branche arbeitet, hat sich mit dem Laden einen Traum erfüllt. „Die Magie von Brautkleidern lässt mich nicht los“. Neben den historischen Kleidern hat sie auch ungetragene von namhaften Designern wie Oscar de la Renta, die es in Deutschland nur selten zu kaufen gibt.

www.allaboutdreams.de; www.traudichbraut.blogspot.de