Das Zahnradbahn-Gespräch mit Prominenten aus dem Sport: auf dem Weg nach oben erzählen sie von ihren Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von Tiefpunkten – heute: ein bewegtes Fechterleben.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Irgendwann hält es Matthias Behr nicht mehr auf seinem Barhocker. Schwungvoll steigt er ab und funktioniert kurzerhand den Mittelgang des Café Kaiserbau am Stuttgarter Marienplatz in eine Planche um. Behr will die entscheidenden Momente des olympischen Florettfinales aus dem Jahr 1984 so originalgetreu wie möglich nachstellen. „Ich führe 7:3 gegen Mauro Numa“, erzählt Behr atemlos und bewegt sich tänzerisch dazu, die virtuelle Klinge in der Hand: „Noch ein Treffer, und ich bin Olympiasieger.“ Den setzt am Ende der Italiener in der Verlängerung, Behr verfehlt Gold um Millimeter. „Einerseits war ich enttäuscht, andererseits habe ich mich über Einzelsilber gefreut“, sagt er.

 

Im Leben von Matthias Behr liegen die Hochs und Tiefs ganz nah beisammen, so wie damals in Los Angeles. Es gibt jedenfalls eine Menge zu erzählen vom Leiter des Olympiastützpunktes Tauberbischofsheim an diesem Vormittag, der mit der Zahnradbahnfahrt beginnt und drei Stunden später bei Espresso und Mineralwasser endet. In dieser Zeit hat der jugendlich, sympathisch und so lebenslustig wirkende 57-Jährige Eindruck gemacht – mit seinem Fechtauftritt offensichtlich auch bei den anderen Gästen. Jedenfalls verabschiedet sich jeder, der das Café verlässt, vom am Ausgang sitzenden Matthias Behr.

Zunächst aber sitzt Matthias Behr in der Zahnradbahn. Und wie es das Protokoll vorsieht, erzählt er am Anfang von seinen Karrierehöhepunkten – von der olympischen Mannschaftsgoldmedaille 1976 und von der Freundschaft zwischen ihm und seinen Teamkameraden Thomas Bach, Harald Hein und Klaus Reichert. Es geht weiter mit den Weltmeisterschaften 1977 in Buenos Aries, „die übrigens in einer Viehhalle stattfanden“, wie sich Behr erinnert. Dort gelang ein Finalsieg gegen die von den argentinischen Zuschauern frenetisch angefeuerten Italiener. Am Ende waren es 16 Medaillen bei Großveranstaltungen, die Matthias Behr gewann. In den goldenen deutschen Fechtzeiten war er ein Star und der Liebling von Emil Beck, der es trotz seiner geringen Körpergröße dennoch schaffte, sich immer noch ein Stück über seine so erfolgreichen Tauberbischofsheimer Fechter und Fechterinnen zu stellen.

Schicksalhafte Erlebnisse münden in eine Depression

Emil Beck – das ist der Mann, der gleichermaßen für Hoch- und Tiefpunkte im Leben von Matthias Behr sorgte. „Mit einer Ohrfeige hat alles angefangen“, erinnert sich Behr an die erste Begegnung. Als 11-Jähriger hatte er beim Training seiner älteren Brüder Reinhold und Jochen zugeschaut. Beck verpasste ihm provisorisch eine Watschen und befahl, das nächste Mal gefälligst mitzutrainieren. „Von diesem Moment an hatte ich einen Vaterersatz“, sagt Matthias Behr, der dreieinhalb Jahre alt war, als er seinen leiblichen Vater bei einem Autounfall verlor. „Ich wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, Emil Beck öffnete mir alle Türen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“ Im Gegenzug erwartete der König von Tauberbischofsheim allerdings auch Gegenleistungen – für den als Kronprinzen auserkorenen Matthias Behr bedeutete dies eine Gefolgschaft teilweise bis zur Selbstaufgabe.

Die Zahnradbahn ist in Degerloch angekommen und bereit zur Talfahrt. Anstatt weiter über Emil Beck und den 1996 beginnenden Psychokrieg mit dem Tauberbischofsheimer Alleinherrscher zu sprechen, will Matthias Behr chronologisch nicht aus der Reihe tanzen. Weil die einzelnen schicksalhaften Erlebnisse aufeinander aufbauen und im Jahr 2001 in eine Depression münden. „Wenn ich über alles spreche, hilft mir das auch bei der Verarbeitung“, sagt Matthias Behr.

Ein Albtraum 1982 bei der WM

Einen Albtraum erlebt er zunächst 1982 bei der WM in Rom. Im Gefecht mit dem Olympiasieger von 1980 und großen Favoriten Wladimir Smirnow bricht die Klinge von Behrs Waffe und bohrt sich durch Maske und Auge in das Gehirn des Russen. Behr hält das blutverschmierte Florett in der Hand und schreit: „Warum, warum, warum ich?“ Auf der Suche nach der Antwort wird Behr irgendwann fündig: „Falls es überhaupt eine Antwort gibt, dann wollte es die Vorsehung wohl, dass ich es bin, der das Fechten sicherer macht.“

Eine Woche nach dem schrecklichen Unfall stirbt Wladimir Smirnow. Es wird allerdings noch Jahre dauern, ehe die Fechtmaske und die Kleidung so beschaffen sind, dass sich eine Tragödie wie die von Rom nicht wiederholen kann.

Keine Reise zu den Olympischen Spielen

Die Geschehnisse von 1982 werden für Behr zum Begleiter. Spätestens wenn er dem Namen Smirnow begegnet – das kann auch im Supermarkt in Wodka-Form sein – läuft der Katastrophenfilm in seinem Kopf ab. Dann spielt auch die damals schwangere Frau von Wladimir Smirnow eine zentrale Rolle. Behr hat der Witwe viele Briefe geschrieben, sie blieben alle unbeantwortet.

„Ich habe gelernt, mit der ganzen Geschichte umzugehen“, sagt er. Unmittelbar danach hat ihm auch Emil Beck dabei geholfen. Der bewies Feingefühl, fuhr mit Behr in den Urlaub und richtete ihn in langen Gesprächen auf. Behr sagt: „Diese Seite von Emil Beck werde ich sicher nicht vergessen.“ Die andere aber auch nicht, und die zeigt sich Matthias Behr gegenüber erstmals deutlich 1996. Er ist inzwischen Tauberbischofsheimer Internatsleiter und engster Mitarbeiter von Emil Beck.

Behr tritt die Reise zu den Olympischen Spielen in Atlanta nicht an. Seine zweite Ehefrau Zita Funkenhauser, ebenfalls Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Fechten, hat nach einer komplizierten Schwangerschaft gerade Zwillinge zur Welt gebracht. Die deutsche Mannschaft kehrt erfolglos aus Amerika zurück. Ein entsprechend schlecht gelaunter Emil Beck macht Matthias Behr anschließend lautstark deutlich, dass er sich von ihm im Stich gelassen gefühlt hat. „Wir waren erstmals am zentralen Punkt angekommen. Bei Emil Beck stand das Fechten immer über allem, bei mir nicht mehr“, sagt Matthias Behr: „Ich habe meine erste Frau und die beiden Kinder aus dieser Ehe wegen Emil Beck und dem Fechten sträflich vernachlässigt, mir war klar, dass sich das nicht wiederholen darf.“ Marienplatz, Endstation.

2001 begann die nächste Leidenszeit

Die Talfahrt mit der Zahnradbahn ist beendet. Weiter bergab in den Erzählungen von Matthias Behr geht es im benachbarten Café: „Ein Arbeitstag mit Emil Beck sah so aus. Um 7 Uhr gemeinsames Frühstück mit den engsten Mitarbeitern, plus Einzelkritik. Und nach dem Trainingsende um 21 Uhr sagte er dann noch oft zu mir: ,Und jetzt geh’ m’r noch a Bratwurst essen.‘“

Beck wird verbannt

Das Verhältnis zwischen Matthias Behr und Emil Beck ist nach Olympia 1996 belastet, 1999 wird es dann zerstört. Es ist der 29. Juni 1999, nicht nur das Datum, selbst die Uhrzeit hat sich für immer in das Gedächtnis von Matthias Behr eingebrannt: „Um 11.29 Uhr sagt Emil Beck vor versammelter Tauberbischofsheimer Mitarbeitermannschaft bei der Auswertung der Europameisterschaften von Bozen zur mageren Tauberbischofsheimer Bilanz mit einer Bronzemedaille: ,Schuld an der sportlichen Misere ist Matthias Behr, weil er seine Familie über die beruflichen Interessen stellt. Hiermit fordere ich dich auf zu gehen.‘“ Matthias Behr geht – aber nur zum Arzt, um sich nach 400 geleisteten Überstunden in den vorangegangenen 12 Monaten arbeitsunfähig schreiben zu lassen.

Der Verbannte ist am Ende Emil Beck, der Fechtbesessene, weil ihm Untreue nachgewiesen wird. Er hatte Sponsorengelder in die eigene Tasche wandern lassen. Die Befreiung für Matthias Behr? „Nein“, sagt er. „Plötzlich saß ich in diesem dunklen Büro von Emil Beck, mit der Deutschlandfahne und dem riesigen Helmut-Kohl-Foto an der Wand.“

2001 begann die nächste Leidenszeit im Leben von Matthias Behr. Diagnose: Depression. Er sitzt monatelang zu Hause in einem verdunkelten Zimmer, isst nur noch sporadisch und denkt immer häufiger an Suizid. Er fasst den Entschluss, sich von einer Autobahnbrücke zu stürzen. Er steht schon oben, ein Bein in der Luft. Ein Gedanke holt ihn ins Leben zurück.

„Ich habe an meine Kinder gedacht und dann an die Kinder, die ich durch meinen Sprung in Mitleidenschaft hätte ziehen können, und habe es gelassen.“ Undramatischer als Matthias Behr kann man diese dramatische Geschichte vermutlich nicht erzählen, so als hätte sie nichts mit ihm zu tun. „Ich bin geheilt“, sagt er, „ich habe die richtigen Medikamente bekommen, die ich noch heute nehme, und wurde von meiner Familie toll unterstützt.“ In der spielt auch sein Bruder Jochen eine wichtige Rolle. Der frühere Bundestrainer sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. „Diese Schicksalsschläge haben uns zusammengeschweißt“, sagt Matthias Behr zum Verhältnis zu seinem Bruder.

Um einen anderen Führungsstil bemüht

Aber auch das Verhalten des Verbandspräsidenten Gordon Rapp habe zu einer engen familiären Bande geführt. 2002 meldet sich Matthias Behr gesund zurück und teilt mit, der deutschen Mannschaft bei den Weltmeisterschaften in Lissabon nach 1999 und 2000 wieder als Teamchef zur Verfügung zu stehen. Rapps Antwort zitiert Behr so: „Ich kann mir nicht erlauben, einen kranken Behr mitzunehmen.“ Eine weitere Enttäuschung für ihn war, dass der Verbandspräsident sich nie nach dem Gesundheitszustand seines Bruders Jochen, der als Bundestrainer angestellt war, erkundigt hat.

Als Leiter des Olympiastützpunktes in Tauberbischofsheim ist Matthias Behr bemüht, einen anderen Führungsstil zu pflegen, anders als Emil Beck, anders als Gordon Rapp: „Ehrlich und offen, außerdem bin ich auch ein Teamplayer.“ Er erkenne aber auch Eigenschaften von Emil Beck an sich: Pünktlichkeit, Einforderung von Disziplin und der Spaß am Organisieren. Und weil er gerade wieder an die Zeit mit „EB“, wie Behr den Fecht-Zampano nennt, zurückdenkt, sagt er. „In den Erinnerungen überwiegt das Positive.“

Schluss mit düsteren Themen

2006 stirbt Emil Beck, zu Hause im Sessel, mit 70 Jahren an einem Herzinfarkt. „Und Tauberbischofsheim erlebte ein Staatsbegräbnis“, sagt Behr, der natürlich dabei und eine Stunde vor dem offiziellen Beginn in der Stadtkirche war. „Einfach, um Zeit für Gedanken zu haben, sie zu ordnen und um Ruhe zu finden.“

Keine Spiele so genossen wie die 2008

Jetzt ist aber Schluss mit den düsteren Themen, meint Matthias Behr und erzählt von der Musik von John Lennon, die er so liebt und von seinen vier Kindern, die er noch viel mehr liebt. „Was halten Sie eigentlich von meiner neuen Brille“, fragt Matthias Behr zwischendurch. Kann sich sehen lassen. „Mit der könnte ich mich locker für einen Doktortitel bewerben. Es sind ja zurzeit einige freie auf dem Markt“, sagt er grinsend. Apropos Doktor. „Ich habe noch keine Olympischen Spiele so genossen wie die 2008 in Peking, als ich nur meine Frau, die als Teamzahnärztin dabei war, mit den Zwillingstöchtern begleitet habe. Und als Zahnärztin-Mann empfehle ich Ihnen morgens Aronal und abends Elmex.“

Bei der Verabschiedung sagt Matthias Behr wieder ernst: „Ich habe heute Morgen mit meinem Sohn Dominik telefoniert und von diesem Interview erzählt. Ich habe ihm gesagt, dass er beim Lesen wahrscheinlich Dinge erfährt, von denen er bisher noch nichts gewusst hat.“