Warum das Hörbuch „Deutsche Winterreise“ eine grandios neue, gesellschaftlich relevante Interpretation des Liedzyklus’ „Winterreise“ ist.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - An manch einem heißen Sommerabend mag manch einer sich auf die Zeit der Wollstrickjacken freuen; selten jedenfalls ist der Winter so beliebt wie bei 30 Grad in der Stadtwohnung um Mitternacht. Glücklich immerhin, wer ein (gemietetes) Heim sein Eigen nennen darf, anders als die Menschen in über dreißig deutschen Städten, mit denen Stefan Weiller in der Zeit von 2008 bis 2018 gesprochen hat.

 

Und von denen einer darüber redet, dass das Dasein als Obdachloser nicht im Winter, sondern im Sommer am Bittersten ist. „Schlimm ist es im Juli, wenn jeder denkt, wir hätten es ja jetzt hübsch warm und romantisch – so arbeitslos und lässig im Park. Aber hab ich mehr Freunde, nur weil die Rosen blühen? Gibt mir einer einen Job, nur weil Krokusse im Park stehen? Im Sommer, wenn sich wirklich keiner mehr für dich interessiert, dann ist eigentlich Eiszeit.“

Der Schauspieler Wolfram Koch leiht der Person die Stimme. Die Passage ist Teil des elften Kapitels namens „Frühlingstraum“ in dem Hörbuch „Deutsche Winterreise“.

Neu arrangierte „Winterreise“

Freunde der Liedkunst dürften jetzt hellhörig werden. Und ja, „Frühlingstraum“ ist ein Kapitel aus dem Liedzyklus „Winterreise“ mit Texten von Wilhelm Müller, vertont im Jahr 1827 von Franz Schubert. Peinlich bemühteres gibt es aber kaum, als hehre Verse ins prosaisch poptaugliche Jetzt zu übersetzen wie es mit Rilke- und Hesse-Gedichtprojekten schon geschah. Den Texten werden dann irgendwelche „Beats“ unterlegt, minderbegabte, populäre Schauspieler sagen sie dunkel raunend auf.

Kein Unrecht indes geschieht den Herren Müller und Schubert und ihrem der Welt verloren gehenden, armen, unglücklich liebenden Gesellen. Hier wird nicht gesungen, die Komposition nicht aufgemotzt. Dafür klug neu arrangiert. Die 24 Kapitel der „Winterreise“ bleiben erhalten, auch die Texte und Teile der Komposition, zurückhaltend fein interpretiert von Hedayet Djeddikar am Klavier.

Grandiose Schauspieler

Die Müller-Verse verteilen sich auf verschiedene Sprecher und kommen nicht immer komplett zu Gehör. Sie sind thematisch an jene Texte angebunden, die Weiller nach seinen Gesprächen mit Geflüchteten, Arbeitslosen, Obdachlosen geschrieben hat.

Das mutet gewollt an, funktioniert aber sensationell gut, weil die Texte gut gebaut, rhythmisiert, komponiert sind. Manchmal auch lakonisch, wenn einer im Kapitel „Rast“ wie achselzuckend erzählt, dass er bei Freunden übernachtet, aber eben „nie eine Arschbombe aufs eigene Sofa“ machen kann.

Das Hörbuch ist auch so grandios, weil die Schauspielerinnen und Schauspieler – Birgitta Assheuer, Jens Harzer, Wolfram Koch, Helmut Krauss, Eva Mattes – nie larmoyant werden, nie pathetisch, aber schon mal den Atem stocken lassen, wenn es besonders leise wird oder sich hinter aufgekratzter Forschheit Ängste, Scham, Verletzlichkeit verbergen.

Eindrucksvolle Porträts

Manches fügt sich schlicht, wenn ein Mann sich erinnert, zum ersten Mal an die Tür eines Obdachlosenheims geklopft zu haben und Zeilen aus „Gute Nacht“ folgen: „nun ist die Welt so trübe . . . muss selbst den Weg mir weisen“.

Oft aber werden erst verschiedene Schicksale von Menschen erzählt, bis die Musik übernimmt oder jemand Verse spricht. Wer dann beim Hören dieser CD das Booklet mit den Originaltexten in Händen hält, bemerkt, wie geschickt und sinnig kombiniert wurde.

Es ist aber nie der Kunstwille Weillers dominant; der Zyklus beeindruckt als Ensembleleistung, bei der die Fragmente sich im Lauf der 82 Minuten zu veritablen Porträts zusammensetzen. Man wünschte freilich, Geschichten der Männer und Frauen mögen ein anderes Ende nehmen als das des Helden bei Wilhelm Müller.

Info zum Hörbuch

Schubert/Müller/Weiller: Deutsche Winterreise. Liederzyklus mit Geschichten von Menschen im Abseits. Verlag Speak Low, Berlin. 1 CD. 82 Minuten. 16 Euro