Das Cyber Valley in Tübingen und Stuttgart ist Europas wichtigster Forschungsstandort zur Künstlichen Intelligenz. Der Verbund kooperiere mit Rüstungspartnern, behaupten Aktivisten und haben in Tübingen einen Hörsaal besetzt.

Tübingen - Der „vorläufige Verhaltenskonsens“ hängt gut sichtbar am Eingang des Hörsaals 21 im Tübinger Kupferbau. „Von uns geht keine Eskalation aus“ steht auf dem Zettel. „Konflikte lösen wir konstruktiv und ohne Vorverurteilung der Beteiligten.“ Es geht friedlich zu an diesem Vormittag in dem Unigebäude. Auf Sofas rekeln sich übermüdete Studis, in Bierflaschen stecken Rosen, das Kaffeegeschirr ist gespült und ordentlich gestapelt. Es ist Tag sechs de Protests. Eine kleine Gruppe Studenten und andere Aktivisten haben ihre Schlafsäcke ausgerollt und halten seit Donnerstag der vergangenen Woche einen Hörsaal besetzt. Wieder abziehen wollen sie so schnell nicht, sie würden vorerst geduldet, hat ihnen der Rektor vor Ort versprochen.

 

Ihre Wut richtet sich gegen das Cyber Valley, das schwäbische Pendant des Hightechstandorts Silicon Valley in Kalifornien, nur dass der Campus nicht im Tal, sondern droben auf einem Berg liegt. Am meisten ärgert die Besetzer die Beteiligung der Tübinger Uni an dem Forschungsverbund für Künstliche Intelligenz (KI), dem noch viele andere Partner angehören: das Land Baden-Württemberg, die Max-Planck-Gesellschaft, die Universität Stuttgart und Unternehmen wie Bosch, BMW, Daimler, ZF Friedrichshafen oder Amazon. „Wir wollen verhindern, dass die zweite digitale Revolution an Europa vorbeigeht“, hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Start der Kooperation vor zwei Jahren gesagt. Erst vor Kurzem hat er den österreichischen Bundespräsidenten durch die Vorzeigelabors geführt. „Eine Goldader im wissenschaftliche Bereich“, sagte Alexander Van der Bellen voll des Lobes. Er bewunderte unter anderem den Roboter Apollo, der situativ auf sein Gegenüber reagiert.

Der Online-Versandhändler Amazon baut ein Forschungszentrum in Tübingen auf

„Da findet eine krasse Kommerzialisierung der Wissenschaft statt“, sagt Eva. Die 26-jährige Medizinstudentin ist mit frischem Kaffee für alle in den Kupferbau gekommen und aus Solidarität gleich da geblieben. Grundlagenforschung dürfe nicht von der Industrie bezahlt werden, fordert Eva. Sie würde Amazon am liebsten aus Tübingen verbannen. „Das ist einer der kritikwürdigsten Großkonzerne unserer Zeit, das fängt bei den Arbeitsbedingungen an.“ Ihr passt es gar nicht, dass der amerikanische Online-Versandhändler ein Forschungszentrum in Tübingen aufbaut, in dem bis zu 100 Wissenschaftler daran arbeiten werden, wie man Computern das Sehen beibringen kann.

Amazon ist wie die anderen Industriepartner mit 1,25 Millionen Euro am Cyber Valley beteiligt und beschäftigt darüber hinaus den Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme, Bernhard Schölkopf, als „Amazon Scholar“. Einen Tag pro Woche ist der supersmarte Informatiker als Ratgeber für Amazon-Projekte im Einsatz. Bereits vier Forschungsstandorte hat der Konzern in Deutschland: Berlin, Aachen, Dresden und seit Jahresbeginn eben Tübingen. „Die Region ist weltweit unter den Top fünf in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz“, sagt eine Unternehmenssprecherin über die Cyber-Valley-Initiative. „Amazon geht dorthin, wo die Experten sind.“

Unten im Kupferbau kämpft das No-Cyber-Valley-Bündnis für eine „emanzipatorische Wissenschaft“, die sich von Partnern aus der Rüstungsindustrie distanziert. Oben auf dem Max-Planck-Campus redet der Forschungskoordinator Matthias Tröndle über die Aufbruchstimmung am nagelneuen Institut für Intelligente Systeme, über die kritische Masse an Professoren, die es braucht, um angesichts der internationalen Konkurrenz als Spitzenforschungsstandort mithalten zu können, und darüber, dass jede Menge KI-Forschung im Smartphone stecke. Von der Spracherkennung bis zum Routenplaner, von der Kamera bis zur Übersetzungsapp.

„Wir wollen nicht Silicon Valley kopieren, wir wollen mithalten, was den Grad der Innovation angeht“, betont Tröndle. Er ist manchmal selbst über das Wachstumspotenzial erstaunt. Bald würden an der Graduiertenschule des Instituts 120 Doktoranden forschen, knapp 50 Professoren, Forschungsgruppenleiter und MPI-Direktoren gebe es mittlerweile im KI-Bereich.

Transparenz sei oberstes Gebot, versichert Forschungskoordinator Tröndle

Die Kritik der Hörsaalbesetzer nimmt Matthias Tröndle ernst, er sagt, sein Institut habe nichts zu verstecken. Transparenz sei eines der obersten Gebote. „Es gibt keine militärische Forschung und auch keine Auftragsforschung“, stellt er klar und erzählt, dass der MPI-Direktor Bernhard Schölkopf eine Initiative gegen autonome Waffensysteme unterstütze. Verpflichtend sei die Zivilklausel der Universität Tübingen, sie hat sich im Jahr 2010 in ihrer Grundordnung darauf verpflichtet, dass Lehre, Forschung und Studium friedlichen Zwecken dienen sollen.

Auch die Max-Planck-Gesellschaft habe Regeln zum verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsfreiheit und -risiken aufgestellt. „Wir gehen mit unserem europäischen Wertekorsett an die Forschung heran“ – und das sei gut so. Ganz anders arbeite man in China, wo Datenschutz ein Fremdwort sei. Dass Roboter eines Tages die Weltherrschaft übernähmen, davon sei man weit entfernt, sagt Tröndle lachend. Er kennt die Probleme der Wissenschaftler. „Sie glauben nicht, wie schwierig es ist, einem Roboter beizubringen, dass er in einem Zimmer den Ausgang findet.“