Alle Jahre wieder haben Abiturienten die Qual der Wahl. Nicht jeder bleibt aber bei seinem Studienfach.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Hohenheim - Der Weg in die Zukunft hat einen holprigen Namen. Lebensmittelwissenschaft und Biotechnologie. Ann-Marie Isenmann gehen die drei Wörter so leicht über die Lippen, als wären sie ihre Mail-Adresse. Doch auch sie musste üben. Lebensmittelwissenschaft und Biotechnologie heißt der Studiengang, den sich die 21-jährige Freiburgerin ausgesucht hat. Inzwischen sagt sie meistens nur LB.

 

LB bedeutet, dass sich Ann-Marie Isenmann an der Uni in Hohenheim mit biochemischen Reaktionen und molekularbiologischen Methoden beschäftigt. Und zwar noch eine ganze Weile. Der Abschluss ist Zukunftsmusik, Ann-Marie Isenmann hat ja gerade erst angefangen. Sie freut sich auf die Zeit. „Ich wollte auf jeden Fall etwas Naturwissenschaftliches studieren“, sagt sie. Der Uni-Neuling hatte schon in der Schule ein Faible für Biologie und Chemie.

Während sie erzählt, sitzt sie in der Cafeteria auf dem Hohenheimer Campus und vespert eine Körnerbrotstulle. Es ist Mittagszeit, das bedeutet, dass man in der Cafete sein eigenes Wort kaum versteht. Für die Leute, die um sie herumwuseln wie Ameisen, ist Ann-Marie Isenmann ein Ersti, ein Erstsemester.

Es gibt 16 500 Studienangebote

Eine Ausfahrt auf der Autobahn des Lebens

Sich für ein Studium zu entscheiden, bedeutet, auf der Autobahn des Lebens eine bestimmte Ausfahrt zu nehmen. Ist die Abi-Fete gefeiert, steht den jungen Leuten die Welt offen. So heißt es. Von A wie Architektur über M wie Musikwissenschaften bis Z wie Zahnmedizin – der Blick in den Studienführer lehrt vor allem eines: Grundsätzlich ist alles möglich. Laut dem Hochschulkompass gibt es rund 16 500 verschiedene Studienangebote.

Sich da auf Anhieb richtig zu entscheiden, ist zwar wahrscheinlicher als ein Sechser im Lotto, gleicht aber irgendwie trotzdem einem Glückstreffer. Indem man eine Tür öffnet, schließen sich automatisch zig andere. Laut dem Hochschul-Informations-System (HIS) würde sich mehr als die Hälfte der Erstis wünschen, besser aufs Studium vorbereitet worden zu sein. Unter den Abiturienten macht sich offenbar Ahnungslosigkeit breit. Was die Wahl des Studienfachs nicht gerade leichter macht.

Ann-Marie Isenmann, die Zielstrebige, die seit Oktober LB studiert, erzählt von gleichaltrigen Bekannten, die sich schwer damit tun, auf der Lebensautobahn den Blinker zu setzen. „Sie sagen, das sei eine Entscheidung für immer“, sagt sie. Für immer. Das hallt nach. Aber ist es auch wahr?

„Es hat sich angefühlt, als wäre ich gescheitert“

Nur wenige Gehminuten von der Hohenheimer Cafeteria entfernt sitzt eine junge Frau auf der Heizung im Flur des Biogebäudes. Es ist an jenem Mittag der einzige Ort in der Nähe, an dem sie in Ruhe berichten kann. Zum Beispiel darüber, dass nichts für die Ewigkeit ist. Dass es ihr aber nicht leicht gefallen ist, dies zu erkennen – und vor allem es zuzulassen. Diese junge Frau heißt Lisa Hartwiger.

Hätte sie im Herbst 2008 jemand gefragt, warum sie Wirtschaftswissenschaften studiert, hätte Lisa Hartwiger eine gute Antwort parat gehabt. „Damit hat man viele Möglichkeiten“, sagt sie. Heute studiert die 23-Jährige mit dem Pagenschnitt Kommunikationswissenschaft. Das mit den Möglichkeiten mag stimmen, doch ihre erste Wahl hat Lisa Hartwiger unglücklich gemacht. „Ich war immer in allem gut in der Schule und bin gern hingegangen“, erzählt sie. „Aber auf einmal bin ich nicht mehr aus dem Bett gekommen und habe geschwänzt, was nur geht.“ Irgendwas lief schief.

Nur wenige Wochen nach der Erstsemester-Begrüßung an der Ruhr-Uni Bochum hat sie hingeworfen. Das klingt leichter, als es war. „Es hat sich angefühlt, als wäre ich gescheitert“, sagt sie. Lisa Hartwiger hat kehrtgemacht, ist wieder auf die Autobahn Richtung Berufsleben zurückgekehrt und hat nach einem neuen Abzweig gesucht. Der Druck war riesig, ein zweites Mal wollte sie sich nicht verschätzen.

Die Studienberatung ist wie eine Therapie-Couch in der Uni

Sieht so aus, als hätte sich Lisa Hartwiger diesmal passend entschieden. Den Bachelor hat die 23-Jährige inzwischen in Kommunikationswissenschaft, seit Mitte Oktober arbeitet sie am Master, ebenfalls in Hohenheim. Das Fach lag ihr von Anfang an. „Ich konnte mir gleich etwas unter den Themen vorstellen“, sagt sie.

Zu Sonja Puderwinski kommen immer wieder junge Leute, die konnten sich unter einem Fach nicht viel vorstellen – und haben es trotzdem gewählt. Das kann schiefgehen. Die Leiterin der Hohenheimer Studienberatung erzählt von einem jungen Mann, der Mitte Oktober 2012 mit Agrarwissenschaften angefangen hat. Eine Woche später saß er bei Puderwinski und hat nach Alternativen gefragt. „Das war ihm zu viel Chemie, er will lieber Wirtschaftswissenschaften machen“, sagt sie.

Dass einer so rasch merkt, dass er falsch abgebogen ist, ist selten. Jedenfalls klopfen unglückliche Studenten meist erst an Sonja Puderwinskis Tür, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, wie sie sagt. Zum Beispiel dann, wenn der Prüfungsanspruch verfallen oder eine Frist abgelaufen ist. Die Studienberatung ist so etwas wie die Therapie-Couch der Uni. Hier fließen Tränen, hier werden Berufsbiografien vielleicht noch einmal neu geschrieben.

„Wenn man einen Traum hat, fallen einem die Entscheidungen, die dort hinführen, nicht schwer“

Die Studienberater sind deshalb auch diejenigen, die helfen wollen, mit Vorurteilen aufzuräumen. Vorurteile, die sich mutmaßlich schon in den Klassenzimmern der Republik ausbreiten wie der Qualm in einer Raucherkneipe. „Was wir immer wieder hören: nur nicht zu alt sein“, sagt Sonja Puderwinski. „Studieren heißt aber nicht sechs Semester Turbo.“ Zeit kann helfen, das Profil jenseits des Hörsaals zu schärfen, Zeit kann zudem nützlich sein, um herauszuhören, was man wirklich will.

Ein Anruf verändert den Werdegang

Diese Zeit hat Amelie Plaas-Link nicht gebraucht. Die 23-Jährige wusste schon immer, was sie beruflich machen möchte: Schauspielerin werden. Da sie dann aber schon mal das Abitur in der Tasche hatte, hat sie im Wintersemester 2009/2010 in Hohenheim mit Kommunikationswissenschaft angefangen.

Der Anruf, der Amelie Plaas-Links Werdegang in eine neue Richtung gelenkt hat, kam im Jahr 2010. Sie hat eine Hauptrolle in einer Telenovela angeboten bekommen. Ein Angebot, das sie angenommen hat, für das sie aber nach Berlin ziehen musste. Denn sie hat das Jahr von Sommer 2010 bis Sommer 2011 am Set der Sat-1-Serie „Hand aufs Herz“ zugebracht. Das Studium war damit gestorben. Für Amelie Plaas-Link kein Grund, sich zu grämen. „Wenn man einen Traum hat, fallen einem die Entscheidungen, die dort hinführen, nicht schwer“, sagt sie. Abgesehen davon: „Ich bin im Studium an meine mathematischen Grenzen gekommen.“

31 Prozent des Wintersemesters 2008/09 haben abgebrochen

An der Uni Hohenheim gibt es keine Statistik darüber, wie viele Studenten sich noch einmal umentschieden haben. Eine solche zu erstellen, ist laut dem Hochschulsprecher Florian Klebs sehr aufwendig. Er kann nur mit einem Wert dienen: Von den Studierenden, die im Wintersemester 2008/09 in Hohenheim mit einem Bachelor-Studium angefangen haben, haben bis zum heutigen Tag 31 Prozent abgebrochen. Unbekannt ist, ob sie hinterher auf Weltreise gegangen sind, ob sie eine Ausbildung begonnen haben, oder ob sie ihr Glück mit einem neuen Studienfach versuchen.

Die Zahl des Bundesbildungsministeriums ist 35 Prozent. So viele Studenten erreichen keinen Abschluss an einer deutschen Uni. An den Fachhochschulen sind es weniger: Von den Studenten dort verabschieden sich 19 Prozent vorzeitig.

„Ich hatte immer schon viel Ahnung davon, was mich interessiert“

Die Zukunft ist bekanntlich unergründbar. Doch Ann-Marie Isenmann, die Erstsemester-Studentin mit dem Vollkornbrot, ist kein Abbrecher-Typ. Die Freiburgerin wusste genau, worauf sie sich einlässt, als sie sich an der Universität Hohenheim eingeschrieben hat. Neben ihr in der Cafeteria sitzt Jonas Linz. Ob der 19-jährige Erlanger mit dem Wuschelkopf irgendwann zu jenen gehören wird, die ihr Leben um 180 Grad drehen, kann er heute kaum abschätzen.

„Da sind einige Lücken, die zu füllen sind“, sagt er im Rückblick auf die ersten Tage als angehender Agrarbiologe. Er hat Biologie und Chemie in der Zehnten abgewählt. Aus heutiger Sicht keine weise Entscheidung. Jonas Linz grinst trotzdem. „Ich bin relativ stressresistent“, sagt er. Er ist eher der spontane Typ. Für Agrarbiologie hat er sich ehrlich gesagt erst ein paar Wochen vor dem Abitur entschieden.

Wobei Jonas Linz nicht als einer hingestellt werden will, der sich keine Gedanken macht. „Ich hatte immer schon viel Ahnung davon, was mich interessiert“, sagt er. Nämlich vieles. So hat er erwogen, sich für Kunstpädagogik, Architektur oder Agrarwissenschaften zu bewerben. Nun ist es doch Agrarbiologie geworden. Weil er sich gut vorstellen kann, in der Entwicklungshilfe zu arbeiten. Vermutlich.

ZAHLEN UND FAKTEN

Studentenzahl
Fast alle Studienplätze, die an der Universität Hohenheim für dieses Wintersemester zu vergeben waren, sind ausgebucht. Rund 2500 neue Studenten haben sich eingeschrieben, davon streben knapp 1700 junge Leute einen Bachelor-Abschluss an. Mehr als 10 000 Bewerbungen musste die Uni ablehnen. Insgesamt studieren dort derzeit 9138 Leute.

Studienfächer
An der Uni Hohenheim gibt es drei Fakultäten: Naturwissenschaften, Agrarwissenschaften sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Am stärksten war der Run auf die Studiengänge der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, dort gingen 7476 Bewerbungen ein, 1521 bekamen eine Zusage. Mit 2628 Bewerbungen waren Wirtschaftswissenschaften mit ökonomischem Profil (Bachelor) am meisten gefragt. 878 Studenten haben eine Zusage bekommen. Beliebt waren auch Kommunikationswissenschaft (Bachelor) mit 1923 Bewerbungen und Management (Master) mit 1381 Bewerbungen. An der naturwissenschaftlichen Fakultät haben sich insgesamt 3619 Leute beworben, an der agrarwissenschaftlichen Fakultät waren es 1919 Bewerber.