Lilian Kienzle schaut von oben auf die neue Backstube, die eher die Bezeichnung Halle verdient hätte, und es sprudelt aus ihr hervor. An der Stirnwand links hängt ein großer Fernsehschirm, darauf sollten eigentlich die Teigtemperaturen angezeigt werden. „Doch das funktioniert noch nicht so richtig“, sagt sie. Macht aber nichts, ihr Bruder Alexander Wanner arbeitet bereits an einer Lösung. Er ist der Geschäftsführer der gleichnamigen Traditionsbäckerei in Holzgerlingen, sie die Prokuristin. Die beiden und der Rest der großen Wanner-Familie haben trotz der Krisen in den vergangenen Jahren einen Kraftakt vollbracht: Eine moderne Firmenzentrale zu errichten samt Produktion, Verkaufsraum, Café und Außenbereich.
Die steht in der Max-Eyth-Straße 1 gleich am Eingang zum Gewerbegebiet Buch. Alles wirkt hell und luftig, Sichtbeton und viel Holz verströmen eine moderne Atmosphäre. Pfiffig: Den Verkaufsraum schmücken Nudelhölzer und Brotschieber, die an Seilen von der Decke hängen. Das Investitionsvolumen beträgt rund sieben Millionen Euro. Und das ausgerechnet während Corona und der nachfolgenden Energiekrise, die manch kleinem Bäcker das Genick brachen. Im Altbau habe man einfach keine Perspektive mehr gehabt, eine Renovierung wäre enorm teuer gekommen, sagt Kienzle. Jetzt biegt das Großprojekt auf die Zielgerade, obwohl auf dem Weg dorthin manche Krise zu bewältigen war.
Fünfstelliger Betrag für Flüssiggas-Tank
Backen braucht Hitze und die liefert nach wie vor Gas. Das allerdings wurde aufgrund des russischen Lieferstopps im vergangenen Jahr knapp. Um den Betrieb jederzeit aufrechterhalten zu können, reagierte Alexander Wanner und investierte im mittleren fünfstelligen Betrag in einen Flüssiggas-Tank. Eine Investition, die so nicht geplant war. „Irgendwann haben wir einfach gesagt: Augen zu und durch“, sagt Lilian Kienzle. Trotz dieses Rückschlags ist die neue Zentrale jetzt so gut wie fertig, Handwerker legen letzte Hand an.
Doch, wie geht das, mitten in einer für viele Bäckereien existenziellen Krise solch ein Großprojekt auf die Beine zu stellen? „Bei uns packt die ganze Familie mit an“, sagt die 37-Jährige und strahlt. Ihre Mutter Ursula arbeitet nach wie vor mit, ihr Vater und Seniorchef Helmut Wanner ist im Alter von 69 zwar operativ nicht mehr tätig, hat aber beim Bau kräftig mitgeholfen: „Mein Vater hat ganze Wände gefliest und den gesamten Sichtbeton versiegelt“, sagt Kienzle. Treibende Kraft sei vor allem ihr Bruder Alexander, der den Betrieb als Bäcker- und Konditormeister Ende 2019 von seinen Eltern übernahm. Er stockte die Zahl der Filialen auf derzeit zwölf auf, wobei es mittelfristig auch bleiben soll.
Besonderer Familiengeist
Der älteste Bruder Daniel unterstützt neben seinem Hauptberuf bei Bosch zusätzlich in finanziellen und strategischen Fragen. Lilian Kienzle bringt ihre Kreativität bei der Gestaltung der Verkaufsräume und im Marketing ein. So schaffig der Familienbetrieb ist, so intensiv wird um Lösungen gerungen. „Klar, dass es da auch mal knallt“, sagt Kienzle. „Aber wir finden immer wieder zusammen und sind gut miteinander.“ Es herrsche eben ein besonderer Geist in dem Familienbetrieb, den die Mitarbeiter zu schätzen wüssten. Viele sind ihm seit Jahren treu. Personalsorgen, wie sie vor allem Kleinbäcker derzeit plagen, kennen Wanners so nicht.
Die modernen Produktionsanlagen kommen der Belegschaft außerdem entgegen: Durch ein ausgeklügeltes System zur Kühlung der Teig-Vorprodukte könnten viele Handarbeiten schon tagsüber erledigt werden, sagt Kienzle. Die Arbeitszeiten der Tages, Spät- und Nachtschicht seien so wesentlich humaner als im Altbau. Außerdem sparten die neuen Ofenanlagen viel Energie ein, 174 Tonnen weniger CO2 will die Bäckerei dadurch ausstoßen. Die Abwärme der Öfen und Kühlaggregate heizen das Gebäude und das Brauchwasser.
Bis zu 50 Grad im Altbau
Der Bau stammt aus der Feder des Sindelfinger Architekten Michael Moll, endlich konnten Wanners das Gebäude an ihre Anforderungen anpassen – und nicht umgekehrt. „In unserem Altbau war einfach viel zu wenig Platz, ständig mussten wir Maschinen auf- und abbauen oder unter dem Dach arbeiten. Im Sommer herrschten da gerne mal Temperaturen um die 50 Grad“, sagt Lilian Kienzle. Während das Ladengeschäft zur Straße hin freilich erhalten bleibt, wird die Familie die alte Backstube dahinter abreißen und das Grundstück verkaufen.
Über das Pfingstwochenende hat das Team den kompletten Backbetrieb aus der verwinkelten Backstube im Holzgerlinger Ortskern auf dem Bloo in den Neubau umgezogen. Nur ein paar alte Maschinen durften mit, das Allermeiste am neuen Stammsitz ist nagelneu. Hier im Neubau sei alles „viel besser, angenehmer“, sagt einer der Mitarbeiter, der gerade Quarkgebäck-Teiglinge aufs Fließband legt. „Manchmal weiß ich gar nicht, wo ich bin, so neu ist das alles!“ Noch läuft nicht alles wie geschmiert, aber doch erstaunlich rund. Seit dem 30. Mai kommen Brezeln, Wecken und Brotlaibe aus den neuen Rohren, der Verkauf in der neuen Zentrale hat am Dienstag nach Pfingsten begonnen.
Offizielle Eröffnung am 12. Juni
Aus dem angegliederten Kaffee schauen schon die ersten Kunden durch ein breites Fenster direkt in die Produktionshalle, ein kleiner Junge winkt Kienzle begeistert zu. „Wir wollten, dass die Menschen sehen, dass hier noch von Hand gearbeitet wird. Außerdem ist das für die Kinder ein Highlight – und die Eltern können nebenbei in Ruhe ihren Kaffee trinken“, sagt sie. Die offizielle Eröffnung steigt am 12. Juni, in den Wochen darauf zieht die Konditorei nach. Sie ist bisher noch im Stammhaus untergebracht.
Eine Bäckerei in Zahlen
Seit 211 Jahren
existiert in Holzgerlingen schon die Bäckerei, deren Anfänge im Jahr 1812 liegen.
In siebter Generation
führt Alexander Wanner das Unternehmen gemeinsam mit seiner Schwester Lilian Kienzle.
An die 145 Mitarbeiter
beschäftigt der Mittelständler, davon 15 in der Backstube und zehn in der Konditorei. Die meisten im Verkauf in den zwölf Filialen.
1800 Quadratmeter
umfasst der Neubau in der Max-Eyth-Straße in Holzgerlingen.
Über 20 000 Brezeln
laufen dort jede Woche vom Band. Das Schlingen geschieht mittlerweile maschinell.