Im Hotel Continental hat der britische Schriftsteller Graham Greene vor sechzig Jahren seinen legendären Roman über Liebe, Politik und Verrat geschrieben. Das zweimal verfilmte Buch erzählt nicht nur vom Ende des französischen Indochina, es ahnt die Niederlage der USA im Vietnamkrieg voraus.

Saigon - Wer als Fußgänger die Ton Duc Thang Avenue überqueren will, um zur Uferpromenade des Saigon River und zu den Restaurantschiffen zu gelangen, der kann nicht auf Zebrastreifen vertrauen, der muss sich beherzt in den fließenden Verkehr einfädeln und dann stetig in die Straße hineinarbeiten. Oder er resigniert und lässt sich, wie dies eine aus dem luxuriösen Majestic kommende Gruppe tut, von einem Portier über die Straße führen. In den frühen fünfziger Jahren hat auch der britische Reporter und Schriftsteller Graham Greene manchmal in diesem Hotel residiert. Damals wechselte die andere Seite des Flusses nachts den Besitzer und ging an eine der im Untergrund kämpfenden Befreiungstruppen, jetzt blickt man von der Dachterrasse hinüber auf riesige Reklametafeln, die für Bier und für die Champions League werben.

 

Seinen legendär gewordenen Roman „Der stille Amerikaner“, in dem der ältere Kriegskorrespondent Thomas Fowler hilflos zusieht, wie ihm der junge Amerikaner Alden Pyle die vietnamesische Freundin Phuong ausspannt, hat Greene jedoch in einem anderen Hotel geschrieben, das auch im Roman und dessen Kinoadaptionen zum Schauplatz wird. „Ich bin Pyle da begegnet, wo man allen begegnet: im Hotel Continental“, sagt der von Michael Caine gespielte Fowler in der 2002 gedrehten zweiten Verfilmung. Von seinem Zimmer 214 aus konnte Greene damals selber jenen Platz an der Oper überblicken, auf dem in seiner Geschichte (und vorher in der Realität) Bomben explodieren und Zivilisten verstümmelt und getötet werden.

Ho-Chi-Minh-City hat sich motorisiert

Hinter der Terroraktion steckt der vorgeblich für eine Hilfsorganisation tätige CIA-Agent Pyle, der den Warlord General Thé unterstützt und mit ihm eine sogenannte „Dritte Kraft“ etablieren will. Den Plastiksprengstoff hat Pyle übrigens in Fahrradrahmen versteckt. Heute würden herumstehende Räder eher auffallen, die umtriebige Acht-Millionen-Stadt, die in Ho-Chi-Minh-City umgetauft wurde, aber immer noch Saigon genannt werden darf, hat sich nämlich motorisiert. Vom Continental aus blickt man jetzt auf Schwärme flinker Mopeds, Motorräder und Roller, deren Fahrer oft Mundschutz tragen und an den Füßen gern Flip-Flops, im Damensitz mitfahrende Frauen auch mal Pumps. Nur selten tritt heute noch jemand in die Pedale, hier mal eine ältere und schwer bepackte Marktfrau mit Kegelhut, da mal ein sehniger Rikschafahrer, dessen vor ihm sitzender Passagier immer ein Tourist ist und immer – ob er dies will oder nicht – so aussieht, als lebe er alte Kolonialzeiten nach.

„Vielleicht war es für uns in Indochina schon vorbei, als Alden Pyles Leiche unter der Brücke von Dakao angeschwemmt wurde, seine Lungen voller Schlamm, vielleicht stürzte auch alles ein mit Dien Bien Phu“, so schreibt der US-Reporter Michael Herr in seinen 1977 erschienenen Kriegserinnerungen „Dispatches“. Und er fährt fort: „Aber das eine geschah in einem Roman, und das Zweite zwar in der Realität, aber weil es den Franzosen passiert war, hielt Washington es für so relevant, als wäre es ebenfalls von Graham Greene erfunden worden.“ An diesen Ort Dien Bien Phu, wo am 7. Mai 1954 die französischen Truppen entscheidend geschlagen wurden, wollten die selber immer tiefer in ihrem eigenen Krieg versinkenden Amerikaner nicht erinnert werden. Und schon gar nicht an Greenes 1955 erschienenen „Stillen Amerikaner“, der auf fast schon unheimliche Weise das Desaster der US-Einmischung in Vietnam vorausahnt.

Was von Indochina übrig blieb

Wie viel ist in Ho-Chi-Minh-City noch zu sehen von diesen letzten Jahren des französischen Kolonialreichs? Erstaunlich viel! Wer vom Majestic aus die Hotel- , Restaurant- und Geschäftsstraße Dong Khoi hochgeht, der kommt an vielen Belle-Époque- und Art-déco-Fassaden vorbei, am Balkongitter eines Cafés ist sogar noch der alte Name Rue Catinat auszumachen. Auch die 1883 erbaute Kathedrale Notre Dame und das Postgebäude am oberen Ende der Straße – beide noch in „Betrieb“ – sind weiterhin Fixpunkte der Stadt, genauso wie auf halber Höhe der Dong Khoi die Oper und das gegenüberliegende Continental. Aber ist auch noch etwas zu spüren von jenen Zeiten? In der Oper läuft die Show „AO“, in der es nicht um den Krieg, sondern um Bambus und friedliches Dorfleben geht. Und auf der Terrasse des Continental johlen nicht mehr Fowlers alkoholisierte US-Kollegen von der Presse herum, die Greene als „groß, laut, jungenhaft und in mittlerem Alter“ beschreibt, dort trinken jetzt sehr gesittete Touristen gesetzteren Alters Kaffee.

Zu der Zeit, da der Roman spielt, war Saigon schon nicht mehr jene elegante Metropole, die als Paris des Ostens gerühmt wurde. Es hatte seine besten (Kolonial-)Tage hinter sich, es war heruntergekommen, es war ein schillernder, zwielichtiger und gefährlicher Ort. Also ein Ort wie geschaffen für einen nach Ausschweifungen dürstenden Mann wie Graham Greene, den zweifelnden Katholiken, depressiven Abenteurer, Frauenhelden und Spieler. An der Rue Catinat sucht er sein Glück beim Würfeln, im Chinesenviertel Cholon lässt er sich seine vier täglichen Opiumpfeifen zubereiten, auch die einschlägigen Etablissements, darunter das damals größte Bordell Südostasiens, sind ihm wohlbekannt.

Heute schließt die Starrynight Bar des Continental um 21 Uhr, eine gute Stunde später ebbt auch der Verkehr auf den Straßen ab, es wird ruhig, so als müsse sich die Stadt ausruhen für die Fluten des nächsten geschäftigen Tages.

Das „harte, leere Lächeln“ der vietnamesischen Begleiterinnen

Mit Ho Chi Minhs Sieg und der Wiedervereinigung des Landes war 1976 das Ende des verruchten Saigon gekommen. Auch wenn sich Vietnam zehn Jahre später wieder dem Westen und der Marktwirtschaft geöffnet hat, sollte es doch „sauber“ bleiben, ohne kriminelle oder dekadente Begleiterscheinungen. Tatsächlich bewegt man sich heute – vom Verkehr mal abgesehen – relativ sicher durch die Straßen, und anders als etwa in Thailand wird man auch nicht mit sexuellen Angeboten überhäuft. Dass früher in den Restaurants, Cafés und Bars von Saigon auch Frauen käuflich zu erwerben waren, dass etwa Fowler seine Freundin Phuong als Tanzmädchen kennengelernt hat, das scheint im Continental nur indirekt in den „Hotel Regulations“ auf, in denen Gästen nicht nur das Mitbringen von „Waffen, Giftstoffen, Sprengstoff und Haustieren“ verboten wird, sondern auch ausdrücklich der Zimmerbesuch von „prostitutes“.

In „Dispatches“ schreibt Michael Herr, der den US-Krieg in den späten sechziger Jahren begleitet, ebenfalls über das Hotel Continental, in dem immer noch oder schon wieder die Amerikaner sitzen, schreibt über deren schöne vietnamesische Mätressen mit dem „harten, leeren Lächeln“, schreibt über die jungen Kellner, die Zuhälterdienste anbieten, schreibt über einen von der Terrasse aus beobachteten Soldaten auf Fronturlaub, der Schnappschüsse von seinen Freunden und ihren Barmädchen machen will, aber von Motorradräubern ins Visier genommen wird: „Bevor er den Auslöser drücken konnte, war seine Kamera schon einen Block weiter.“

„Five o’ clock follies“ im Hotel Rex

Herr berichtet auch von den täglichen Pressekonferenzen, die einen Block entfernt im Hotel Rex stattfinden und von den zynisch gewordenen Reportern als „five o’clock follies“ bezeichnet werden, als verrückte Aufführungen, Torheiten, Eseleien. Das Rex lädt immer noch ironisch zu seinen „follies“, aber nun ist die Happy Hour auf der Dachterrasse gemeint, auf der Lampions in der Brise schaukeln, chinesische Geschäftsmänner sich glaszerbrechend zuprosten und ein virtuoser einheimischer Flamenco-Gitarrist das „Concierto de Aranjuez“ so spielt, als wäre es seine Privathommage an den verstorbenen Paco de Lucia. Auf einem an der Wand hängenden und im Dezember 2013 aufgenommenen Foto lächelt der US-Außenminister John Kerry diesem Gitarristen zu. Ist der Krieg jetzt vergessen, sind jetzt alle versöhnt? Jedenfalls sieht der Stein gewordene und von Grillen umzirpte Onkel Ho im Park so aus, als schaue er sich wohlwollend die Lichterspiele der Hochhäuser an; in goldenen Lettern liest man am Gebäude der Börse: „Ho-Chi-Minh-Stock-Exchange“; im Wechsel mit einer Bankenreklame lächelt der Staatsgründer von einer großen Reklametafel an einer Fassade herunter; und in Souvenirläden stehen die Tassen mit seinem Porträt über solchen mit Mickey-Mouse-Aufdruck.

Fast trotzig wehen an manchen Privathäusern – meist an den ärmeren – noch rote Fahnen mit gelbem Stern. Auch die Partei- und Regierungsgebäude halten Abstand zum boomenden Markt und selbstbewusst dagegen, sie wirken in ihrer spröden, aber pastellig gemilderten Nüchternheit wie leicht misstrauische Aufpasser. In einer bunten Mischung aus Comicstil und sozialistischem Realismus zeigt die Staatspropaganda auch noch Arbeiter, Mütter und Kinder, die in den Himmel deuten, aber während hier die Zukunft versprochen wird, verspricht die Werbung die Erfüllung aller Wünsche schon in der Gegenwart. Der erste TV-Programmplatz im Continental ist übrigens nicht mit einem Sender des Staatsfernsehens belegt, sondern mit CNN. Der Krieg mag verdrängt werden, vergessen ist er nicht. Nordöstlich von Saigon grinsen jetzt Touristen aus den Ausstiegsluken des Cu-Chi-Tunnelsystems heraus, in dem sich damals der Vietcong versteckt hielt. Speziell für US-Veteranen bieten Reisebüros Touren zu Schlachtfeldern oder umkämpften Stellungen wie Khe Sanh an, wo bald ein Mahnmal an die Opfer beider Seiten erinnern soll. Das Kriegsmuseum in Ho-Chi-Minh-City aber bleibt unerbittlich, es gibt sich nicht der Versöhnung mit dem Ex-Feind hin, sondern zeigt auf insistierende Weise dessen Gräueltaten.

Der Krieg ist nicht vergessen, seine Folgen nicht zu übersehen

Viele dieser grausamen Bilder sind berühmt geworden, man kennt sie also schon, und doch wirken sie in der Nachschau fast noch stärker. Es ist ja auch nicht vorbei, die erodierten Hügel, die einem bei der Fahrt durchs Land auffallen, sind Folgen des erbgutschädigenden US-Entlaubungsgifts Agent Orange, das auch heute noch zu Fehl- und Totgeburten führt. Und auf den Reisfeldern gehen immer noch alte Minen und Blindgänger hoch.

Saigon sei ein „Aufbewahrungsort und eine Arena“, schreibt Michael Herr, es atme Geschichte und stoße sie aus „wie ein Gift“. Und plötzlich ist man wieder im Jahr 1967, stapeln sich vor dem Continental Sandsäcke, wird das Hotel mit Stacheldraht verbarrikadiert, fährt ein Jeep vor. Doch es sind nur Dreharbeiten des italienischen Senders Rai 1, der die Vietnam-Erlebnisse der Reporterin Oriana Fallaci nachinszeniert, wie sie sie in ihrem Buch „Wir, Engel und Bestien“ schildert. Im Foyer erinnert ein Messingschild auch an Pham Xuan An, der für Reuters und das „Time Magazine“ schrieb – und gleichzeitig für den Geheimdienst Ho-Chi-Minhs arbeitete. Zwei englischsprachige Bücher wurden über ihn geschrieben, und vielleicht war er im „Stillen Amerikaner“ Vorbild für den Assistenten von Fowler, der seinen Chef mit dem Vietminh-Untergrund in Kontakt bringt. Das Vorbild für Pyle wiederum, auch wenn Greene das bestritten hat, könnte der CIA-Agent Edward Lansdale gewesen sein. Er hat dem Regisseur Josef L. Mankiewicz 1957 für dessen erste Romanadaption auch die Dreherlaubnis vor Ort besorgt und es dann geschafft, die Vorlage ins Gegenteil zu verkehren. Der Amerikaner Pyle ist nun kein Bombenleger mehr, er wurde von Fowler zu Unrecht verdächtigt. In der zweiten Verfilmung kehrt Phillip Noyce zurück zum Buch, in dem der ideologisch verbohrte Pyle für die Sache der USA über Leichen geht. Dieser im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute ruhig und höflich auftretende Amerikaner ist für Fowler „unbesiegbar gerüstet durch seine guten Absichten und seine Ignoranz“. Der Roman ist ein Menetekel, das in Washington freilich nicht wahrgenommen wurde: Die USA haben ihren Krieg gewollt und ihn provoziert. „Gott bewahre uns immer vor den Unschuldigen und Guten“, fleht Fowler. Und er wünscht sich, lange bevor Alden Pyles Leiche unter der Brücke von Dakao angeschwemmt wird: „Er hätte zu Hause bleiben sollen.“