Die vier Leiter der Stuttgarter Gestapo starben noch während des Krieges oder kurz danach. Sie waren verantwortlich für den innenpolitischen Terror in Württemberg und Hohenzollern und damit auch für die Verhaftung von vielen tausend politisch unliebsamen Menschen.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die Gestapo war verantwortlich für den innenpolitischen Terror der Nazis, auch in Stuttgart: Diese politische Polizei konnte Menschen, die ihr nicht passten, willkürlich verhaften oder in Lager einweisen, sie organisierte die Deportation der jüdischen Bevölkerung, und sie ließ zahlreiche Bürger exekutieren, ohne dass vorher ein Gerichtsprozess stattgefunden hätte. In der künftigen Gedenkstätte im Hotel Silber, dem früheren Sitz der württembergischen Gestapo, wird die Frage nach den Tätern großen Raum einnehmen. Zwei Mitarbeiter des Hauses der Geschichte forschen deshalb intensiv auf diesem Gebiet, und vor Kurzem haben sechs Laienhistoriker eine Gesamtanalyse der hiesigen Gestapo veröffentlicht. Das Buch trägt den Titel: „Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern“.

 

Den vier Leitern der Stuttgarter Gestapo kommt dabei besonderes Augenmerk zu. Allerdings ist ihnen eines gemeinsam: Hermann Mattheiß, Walter Stahlecker und Joachim Boës starben noch vor 1945, Friedrich Mußgay nahm sich 1946 das Leben – keiner von ihnen ist jemals für seine Taten zur Rechenschaft gezogen worden. Ihr früher Tod mag manchem als gerechte Strafe erscheinen; für den Historiker reduziert sich jedoch, da nach 1945 keine Ermittlungen angestrengt worden sind und kein Prozess stattgefunden hat, das Quellenmaterial in erheblicher Weise. Die Akten der Gestapo-Zentrale, also Dokumente für die Zeit vor 1945, sind sowieso weitgehend vernichtet. Dennoch, wesentliche Aussagen über die vier Chefs der Stuttgarter Gestapo lassen sich natürlich treffen.


Hermann Mattheiß (1893-1934)

Nur ein gutes Jahr, von April 1933 bis Mai 1934, stand Hermann Mattheiß an der Spitze der Gestapo, aber es war ein wichtiges Jahr: In der ersten Zeit nach der Machtergreifung liefen die großen Verhaftungswellen, die sich vor allem gegen die Anhänger der kommunistischen Partei richteten. „Mattheiß war für diese Situation der richtige Mann“, sagt Friedemann Rincke vom Haus der Geschichte: „Er brachte die notwendige Rücksichtslosigkeit mit.“ Der promovierte Jurist hatte gleich nach seinem Amtsantritt öffentlich im „NS-Kurier“ allen „staatsfeindlichen Elementen“ die Verhaftung oder Zwangsarbeit angedroht – oder gar, sie „körperlich auszurotten“.

Berüchtigt war Mattheiß wegen seines cholerischen Charakters. Er war wohl mit vielen Dienststellen in Privatfehden verstrickt, und dies wurde ihm zum Verhängnis. Innenminister Wilhelm Murr berief ihn als Chef der Gestapo ab, und nur wenige Wochen später wurde er in Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch verhaftet und erschossen – als einziges prominentes Opfer in Württemberg, schreibt Ingrid Bauz im genannten Buch. Rincke vermutet, dass persönliche und nicht politische Animositäten Mattheiß das Leben gekostet haben.

Walter Stahlecker gehörte zu den Schlächtern im Osten


Walter Stahlecker (1900-1942)

Auch Stahlecker, geboren in Sternenfels, war ein promovierter Jurist. Er stehe, so Sarah Stewart vom Haus der Geschichte, wie Mattheiß und Boës für jene Generation junger Karrieristen, die die Aufstiegschancen des Dritten Reiches unbedingt nutzen wollten. In den drei Jahren als Chef der Gestapo, bis April 1937, habe Stahlecker die Zusammenarbeit der Gestapo mit der SS geplant und umgesetzt, schreibt Ingrid Bauz. Daneben habe er die verbotene KPD mit V-Leuten infiltriert und so die Strukturen der verbotenen Partei weitgehend zerschlagen, sagt Friedemann Rincke.

Zu schrecklicher Berühmtheit gelangte Walter Stahlecker aber erst später. Er wurde im Juni 1941 Leiter der Einsatzgruppe A im Baltikum, bald darauf auch Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Riga. Unter seinem Befehl seien damals, so Rincke, die baltischen Juden ermordet worden: „Er hat richtiggehend gewütet.“ Allein bis Ende 1941 seien 250 000 Personen umgekommen. Auch jene 1000 jüdischen Mitbürger aus Württemberg, die im Dezember 1941 nach Riga deportiert worden sind, gehörten in Stahleckers Distrikt.

Fast alle diese Menschen aus Württemberg wurden am 26. März 1942 in einer Massenexekution erschossen. Stahlecker starb drei Tage zuvor, am 23. März 1942, während eines Angriffes von Partisanen.


Joachim Boës (1899-1941)

Boës war der einzige der vier Chefs, der nicht aus dem deutschen Südwesten stammte. Er leitete die Behörde bis zum Mai 1940: In seine Amtszeit fiel, so schreibt das Haus der Geschichte, die Radikalisierung der anitjüdischen Politik – für das Pogrom am 9. November 1938 zeichnete die Gestapo und damit Joachim Boës maßgeblich verantwortlich. Er hat es aber wohl als Makel empfunden, im Ersten Weltkrieg nur ganz kurz im Feld gewesen zu sein und meldete sich 1940 freiwillig für die Wehrmacht, wo er wieder ganz unten als Gefreiter habe anfangen müssen, sagt Friedemann Rincke. An die Front schaffte es Boës auch dieses Mal nicht: Er starb im Juli 1941 in der Etappe in Bukarest an Ruhr.

Friedrich Mußgay (1892–1946)

Er war ohne Zweifel der prägendste Leiter der Stuttgarter Gestapo. Der gebürtige Ludwigsburger war schon 1917 in den Polizeidienst eingetreten; er kannte als Einziger die Behörde von innen und konnte es deshalb auch während seiner Zeit als Chef nicht lassen, bei Verhören dabei zu sein. Schon ab 1937 hatte er das Spitzel- und Informantennetz der Gestapo aufgebaut. Als Chef war er nun verantwortlich für die Deportation der jüdischen Bürger, später dann für die Überwachung und die Repression gegen die zahlreichen Zwangsarbeiter. Roland Maier bezeichnete Mußgay im Buch „Stuttgarter NS-Täter“ als „einen der willfährigsten Vollstrecker nationalsozialistischer Terrormaßnahmen im Land“.

Friedrich Mußgay (1892-1946)

Die Person Mußgay sei nicht wirklich zu fassen, sagt Rincke: Manche beschreiben ihn als „Rumpelstilzchen“, andere als „ruhigen Fachmann“; einerseits ist er erst zum letztmöglichen Zeitpunkt in die NSDAP eingetreten, andererseits könnte er schon in den 1920er Jahren die Partei vor Razzien gewarnt haben – denn offiziell war Mußgay in der Weimarer Republik für die Überwachung der rechtsradikalen NSDAP zuständig gewesen. Die große Karriere, so Sarah Stewart, lasse aber keinen Zweifel daran, dass er seine Arbeit in den Augen der Nazis gut und effizient erledigt habe.

Am 3. September 1946 nahm sich Mußgay in amerikanischer Haft in Stuttgart das Leben. In seinem erhaltenen Abschiedsbrief streitet er alle Schuld ab und schreibt: „Ich versichere mit gutem Gewissen, dass ich niemand einen solchen Befehl [zu Exekutionen] gegeben habe, aber man glaubt mir nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass ich soll noch jahrelang eingesperrt sein! Seelisch kann ich es nicht mehr tragen.“

Rein formal, sagt Rincke, habe Friedrich Mußgay sogar recht, denn das Reichssicherheitshauptamt in Berlin gab offiziell den Befehl zur Hinrichtung, die man im NS-Jargon Sonderbehandlung nannte. Allerdings sei die Empfehlung für die Exekution meistens zuvor aus Stuttgart gekommen: „Ein gewaltiges Maß an Verantwortung liegt bei Mußgay“, so Rinckes Urteil. Der letzte Leiter der Stuttgarter Gestapo, der im Gestapo-Buch laut Sigrid Brüggemann einst wegen seiner Erfolge im Kampf gegen NS-Opposition der „Fuchs“ genannt worden war, hat nun nur noch einen Wunsch: „Gott der Herr möge mir auch verzeihen und mir ein gnädiger Richter sein.“

In loser Folge stellt die StZ neue Erkenntnisse zum Hotel Silber vor, die das Haus der Geschichte und Laien gewonnen haben. Die weiteren Serienteile finden Sie hier.