Im Hinblick auf die Nazizeit in Stuttgart und Württemberg fragt die Historikerin Susanne Wein in ihrer jüngsten Publikation, ob zu dieser Zeit bereits alles erforscht ist. Das Buch ist im Auftrag der Bürgerinitiative Hotel Silber entstanden.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Ganz harmlos kommt der Titel des neuen Buches der Historikerin Susanne Wein daher: „Alles erforscht?“, fragt sie im Hinblick auf die Nazizeit in Stuttgart und Württemberg. Tatsächlich aber hat das Buch gleich doppelt einen politischen Hintergrund. Zum einen ist das Buch von der Bürgerinitiative zum Hotel Silber in Auftrag gegeben worden, die damit aufzeigen will, dass es für die künftige Gedenkstätte am Karlsplatz noch viele Themen gibt; manche Leute halten nämlich die Gedenkstätte für überflüssig – was sie aber öffentlich nie sagen würden.

 

Die engagierten Bürger halten ihre Forschung für notwendig

Zum anderen wollen die engagierten Bürger damit beweisen, dass sie zwar Laien sind, ihre Forschung aber mehr als notwendig ist. Sie fordern deshalb immer wieder ein, dass die professionellen Historiker sie stärker unterstützen – auch das ist ja ein Ziel im Hotel Silber. Umgekehrt mögen diese Profis den unausgesprochenen, aber implizit vorhandenen Vorwurf nicht, sie hätten in der Vergangenheit nicht genügend zur Aufarbeitung der regionalen NS-Geschichte beigetragen. Das stimmt auch nur teilweise. So ist die Darstellung der Nazizeit in Stuttgart von Roland Müller, dem Leiter des Stadtarchivs, noch immer das Standardwerk zum Thema. Die beiden letzten großen Erscheinungen, das Stuttgarter Täter-Buch und die Geschichte der Gestapo in Württemberg, kamen aber von Laien.

Die Autorin tappte in keines der Fettnäpfchen

Für Spannung war also bei der Präsentation des Buches am authentischen Ort, im Hotel Silber, gesorgt. Die Autorin Susanne Wein tappte allerdings in keines der Fettnäpfchen, die am Wegesrand lauerten. Sie komme selbst aus dem bürgerschaftlichen Engagement und stehe kurz vor der Dissertation in Berlin, sagte sie. In ihrem Band hat sie rund 1000 Bücher aufgeführt, die in den vergangenen Jahrzehnten zur NS-Geschichte in Württemberg erschienen sind. Gerade in der Forschung über die Täter und über die KZ-Außenlager im Südwesten sei in den vergangenen Jahren viel geschehen, sagte Wein; und gerade in Stuttgart sei seit den 1980er Jahren viel geforscht worden.

Auseinandersetzung mit der „Volksgemeinschaft“

Dennoch sieht sie Defizite – Desiderata nennen das die Forscher, also Themen, deren Bearbeitung sehnlich erwünscht ist. Am Anfang stünde die Auseinandersetzung mit der „Volksgemeinschaft“: Wie haben sich die Menschen gleichschalten lassen, was geschah tatsächlich mit den Ungehorsamen, und wie war das mit der Denunziation von Nachbarn und Arbeitskollegen?

Wie funktionierten die Mechanismen der Verdrängung?

Sehr wenig Arbeiten gebe es auch, so Wein, zu den Kontinuitäten nach Kriegsende: Wieso konnten so viele ihre Karrieren nach 1945 fortsetzen, wie funktionierten die Mechanismen der Verdrängung, was geschah mit dem „arisierten Besitz“ der jüdischen Mitbürger? Auch für die Justiz seien viele Fragen offen. Die Rolle der Sonderrichter sei zwar recht gut beleuchtet, aber man wisse wenig über die Verwaltungs- und Zivilrichter im Dritten Reich. Eine weitere Lücke tue sich beim Widerstand von SPD und KPD in Stuttgart auf – seit 20 Jahren sei dazu kaum noch etwas erschienen. Nicht nur in der Benennung dieser Defizite hat das Buch seine Stärken.

Die Initiative sucht auch die Nähe zu den Kritiker

Dass die Initiative aber trotz ihrer Kritik die Nähe zu den Historikern sucht, konnte man bei der Buchpräsentation sehen: Roland Müller und Thomas Schnabel, der Chef des Hauses der Geschichte, waren nicht nur eingeladen, sondern sind auch um einen Redebeitrag gebeten worden. Müller erlaubte sich die Anmerkung, dass Laien und Profis bisher schon zusammengearbeitet hätten und dass die Historiker schon selbst Bibliografien erarbeitet hätten – er verwies auf den nationalen Doppelband von Michael Ruck mit 37 000 Einträgen, den er extra aus Bad Cannstatt mitgeschleift hatte, sowie auf seine eigene Bilanz, die zwei Jahre alt sei.

Thomas Schnabel vermisst Lehrstuhl für Landesgeschichte

Allerdings verbündete sich Müller, der seltsamerweise an den Runden Tisch zum Hotel Silber nicht eingeladen worden ist, obwohl er ein ausgewiesener Stuttgart- und NS-Kenner ist, in anderen Punkten mit der Bürgerinitiative. Es sei wahr, dass viele Stiftungen kaum noch Stipendien für die NS-Forschung vergäben, und es sei wahr, dass andere Regionen breiter aufgestellt seien. Thomas Schnabel merkte zudem an, dass er es schade finde, dass es an der Universität Stuttgart keinen Lehrstuhl für Landeszeitgeschichte gebe. Er sagte aber auch: „Keine historische Epoche ist besser erforscht als die NS-Zeit.“

Für ihn müsste die Gedenkstätte im Hotel Silber, die von seinem Haus getragen werden soll, vor allem aufzeigen, dass die Gestapo in Württemberg „nicht vom Himmel gefallen ist“ und dass es nach 1945 nicht zu einem totalen Bruch kam; so habe der neue Polizeipräsident schon zwei Wochen nach Kriegsende seine Arbeit aufgenommen – Amtssitz: Hotel Silber. Und mit seiner salomonischen Art fügte er zuletzt dazu: „Wenn diese Arbeit Laien und Profis zusammen tun, ist das doch das Optimum.“

BuchdatenSusanne Wein: Alles erforscht? Nationalsozialismus in Württemberg und Hohenzollern: Literaturbericht und Bibliografie. Stuttgart, 2013. 300 Seiten, 15,90 Euro.