Es ist schon ein paar Wochen her, da war ein Pulk von sechs Radler(inne)n auf der Straße zwischen Kläranlage und Daimler-Schloten unterwegs. Aufmerksam langsam, mit Adleraugen und Laptops bestückt. Ein Sextett, zusammengesetzt aus Guido Gremler vom Amt für Stadtentwicklung in Böblingen, Sindelfingens (Rad-)Verkehrsplaner Gunnar Steffen Kimmel, dem Radwegebeauftragten des Landratsamts, Marcel Haas, und drei Abgesandten des Büros „Orange Edge“ aus Hamburg.
Die Radlerpendler zum Daimler sind eine Größe, die berücksichtigt sein will
Die radelnde „Dreieinigkeit“ – sie symbolisiert, dass die Nachbarstädte und der Kreis bei der Käsbrünnlestraße an einem Strang ziehen wollen. Die komplett marode Straße im Schwippetal soll auf ihrer Südseite zu einem vier Meter breiten Radschnellweg ausgebaut werden. Auf der Nordseite, also zum Daimler hin, sollen noch Autos fahren dürfen, aber nur von West nach Ost, also von der Kläranlage bis zu Tor 1. Warum so rum und nicht anders herum? „Weil das dann unkritische Rechtsabbieger sind“, sagt Sindelfingens Rathaus-Verkehrsfachmann Kimmel (54). Er verspricht, dass die Fahrbahnbreite jetzt beziehungsweise künftig 7,50 Meter hergibt, also Zwei- wie Vierräder problemlos aufnimmt. Wie genau zwischen den beiden Verkehrsfraktionen ein sicherer Abstand hergestellt wird, stehe noch nicht fest. Aber ins Gehege werde sich keiner kommen, sagt Kimmel: „Das werden zwei völlig getrennte Anlagen, durch einen Trennstreifen baulich ausgeformt, der nicht überfahren werden kann.“ Ausgenommen Rettungsfahrzeuge im Bedarfsfall, also etwa einem schweren Autobahnunfall.
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Eine Million Euro für einen Kilometer Radschnellweg
Sindelfingen, Böblingen und der Kreis werden dabei von einem Hamburger Büro für Stadtplanung und Mobilitätsforschung begleitet – „Orange Edge“ (zu deutsch: orangene Ecke). Die Hanseaten waren bisher schon eingebunden (eine Untersuchung von 2019), haben jetzt aber den Auftrag zu einer „vertieften Machbarkeitsstudie“, wie Kreis-Radverkehrswegeplaner Marcel Haas (41) sagt.
„Enormes Potenzial“: Unbedingt sollte Daimler angebunden werden
Zentral dabei ist die Herausforderung, den vorhandenen Radschnellweg Stuttgart-Böblingen/Sindelfingen an die städtischen Netze anzudocken. Respektive die Radschnellverbindung aus der Landeshauptstadt künftig durchs Sindelfinger Stadtgebiet gen Gäumetropole Herrenberg, „R S1“ abgekürzt, zu verlängern. Theoretisch läge die Herrenberger Straße in Böblingen auf dieser Achse. Aber politisches Ziel, sagt Roland Schmitt, Vorsitzender der Ortsgruppe Böblingen-Sindelfingen des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), sei es, unbedingt den Daimler für Radpendler anzubinden. Ein enormes Potenzial. Auch die Hulb Nord. Dementsprechend soll der Radweg ab der Käsbrünnlestraße über den Daimler-Knoten weitergeführt werden – auf dem Radweg südlich der Calwer Straße Böblingen-Dagersheim.
Lesen Sie aus unserem Angebot: Holz-Highway für Radler
Wie dieser Höhenunterschied überbrückt werden kann – knifflig. „Jedenfalls nicht mit der bisherigen Brücke über die Schwippe und einer Spitzkehre am Berggefälle“, sagt Gunnar Steffen Müller. Radler wollen ja schnell vorwärtskommen und keine unnötigen Steigungen und Ampeln passieren und gefährliche Bremsmanöver absolvieren. Auf „Orange Edge“ werden also viele technisch komplexen Fragen zukommen. Deshalb auch der Ortstermin. „Man kann Geodaten auswerten, Straßenkarten studieren. Aber die konkrete Anschauung ersetzt das alles nicht.“
Was die Anbindung des Stuttgarter Radschnellwegs, bisher endend auf Sindelfinger Gemarkung am Mönchsbrunnen, anlangt, denken alle Beteiligten an eine – buchstäblich – nahe liegende Fortsetzung. Wenn die Autobahn dann mal verbreitert und auf Höhe Goldberg mit einem Deckel versehen ist, könnten dort 850 Meter Radschnellweg liegen, die an die Käsbrünnlestraße anzudocken sind.
Radaufkommen auf der Käsbrünnlestraße am Tag: bis zu 3500 als Prognose
Dafür sind x Abstimmungsgespräche zu führen – da gibt sich Rad-Aktivist Marcel Haas keinen Illusionen hin. Visionen schon. Neben den Städten seien die Bahn zu hören und die Deutsche Autobahngesellschaft Deges, im Zweifel auch Naturschutzbehörden, private Grundstücksbesitzer oder Firmeneigentümer.
Bis zu 3000 Radler pro Tag
Aber wie heißt es doch im Volksmund so schön? Wo ein Wille ist, ist auch ein (Rad-)Weg. Wie lange es dauert, der tretenden Zweiradfraktion den Highway auszurollen, weiß zur Stunde niemand. „Den gesamten Radschnellweg Stuttgart-Herrenbergkomplett durchzubinden, das kann womöglich Jahre dauern“, befürchtet Gunnar Steffen Müller.
Sehr viel schneller dagegen dürfte das Teilstück Käsbrünnlestraße gehen. Und dort dürfte radtechnisch hernach viel gehen. Marcel Haas prognostiziert aufgrund von Erfahrungswerten vom Radteilstück im Sindelfinger/Böblinger Wald mit 2500, ja 3500 Radbewegungen pro Tag.
Neue Straßen ziehen eben nicht nur Autos an, sondern auch Räder.
Ziel sind 20 Prozent Radler am gesamten Verkehrsaufkommen
1000 pro Tag
Der Radschnellweg Stuttgart(Rohr)-BB-Sifi ist Ende Mai 2019 eröffnet worden, also vor genau drei Jahren. Seitdem wurden über den Infrarotsensor der Kontaktschleife zwischen S-Bahn- und Autobahnbrücke rund 720 000 Radfahrten gezählt. Am Tag sind es oft 1000. „Eine Erfolgsgeschichte“ nennt das der Böblinger Landrat Roland Bernhard.
Potenzial
Das Potenzial für den Anteil des Radverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen gilt als noch lange nicht ausgeschöpft. Politisches Ziel des Kreises sind 20 Prozent bis 2025, also jede fünfte Fahrt.
Baulast Die Stadt Sindelfingen hat die Federführung für Planung und Bau des Radschnellwegs Käsbrünnlestraße. Die Reparatur der im Schwippe-Schluff liegenden, schwer lädierten Straße könnte nach Schätzungen drei Millionen Euro kosten. Viel Geld also. Trost freilich: Der Bund, der Radschnellwege fördert, zahlt das Meiste davon. Der Kreis ist bereit, vorübergehend die Baulast zu tragen. (sd)