Martin Scorsese hat eine bildprächtige Hommage an das alte Kino und das Frankreich der Vorkriegszeit gedreht – in 3-D.

Stuttgart - Die Kamera durchfährt ein riesiges goldenes Räderwerk, wirft dann einen Panoramablick über das verschneite Paris des Jahres 1931, fliegt auf einen großen Bahnhof zu, taucht unter das Glas- und Eisendach und hinunter zu den Gleisen, fährt an Waggons entlang und durch den Rauch von Lokomotiven hindurch, gleitet in das Gebäude mit seinen Kiosken, Läden und Cafés hinein, schlängelt sich elegant durch Menschenmengen und nähert sich schließlich zielsicher einer über allen Köpfen prunkenden Uhr.

 

Denn von dort aus, hinterm Ziffernblatt versteckt und durch das Schlüsselloch hindurch, beobachtet der zwölfjährige Waisenjunge Hugo Cabret (Asa Butterfield) seine Welt, der er jeden Tag den Takt vorgibt.

Mit dieser fulminanten Sequenz – ungeschnitten und in 3-D! – führt Martin Scorsese den Zuschauer in die Geschichte seines ernsten Helden ein, der wie das kleine Phantom des Bahnhofs heimlich in dessen Eingeweiden haust und nach dem Verschwinden seines Säuferonkels eigenmächtig den Job als Uhrenaufzieher angenommen hat. Wie ein Nachfahre von Charles Dickens‘ kleinen, aber aufrechten Protagonisten wirkt dieser Hugo, wenn er sich in seiner abgetragenen Jacke und in seinen kurzen Hosen durch diesen wuseligen Mikrokosmos bewegt.

Der kleine Held Hugo tappt in die Falle

Aus seinem dunklen Räder-und-Röhren-Reich hinter den prächtigen Fassaden beobachtet er auch immer wieder den verbitterten alten George (Ben Kingsley) vom Spielzeuglädelchen und klaut ihm hin und wieder mechanische Teile, um einen Automatenmenschen in Gang zu setzen. Diese Metallfigur mit ihrem herzförmigen Schloss und ein Notizbuch mit seltsamen Konstruktionszeichnungen sind nämlich das einzige Erbe, das ihm sein verstorbener Vater hinterlassen hat.

Niemals aber darf Hugo, der nun mit Georges wacher Enkelin Isabelle (Chloe Moretz) herumstreift, sich vom übel gelaunten Bahnhofsvorsteher erwischen lassen, einem Kerl mit Schnurrbart und Dogge, der in seiner blauen Operettenuniform Ausschau nach herrenlosen Waisenkindern hält. Wenn er eines geschnappt hat, steckt er es in einen Käfig und lässt es von Heimbediensteten abholen. Nur gut, dass manchmal das Scharnier seines kriegsbeschädigten Beines ausrastet und seine im Slapstick-Stil inszenierten Jagden abrupt zum Stillstand kommen. Sacha Baron Cohen („Borat“) spielt diese Karikatur mit Witz und Verve und erinnert dabei an John Cleeses autoritäre Monty-Python-Figuren. Nun aber setzt nicht dieser   Bahnhofsvorsteher, sondern der alte George eine surrende Blechmaus als Köder aus – und unser kleiner Held Hugo tappt in die Falle.

Scorseses Film will cineastisch noch viel weiter zurück

„Hugo Cabret““ ist ein sehr verspielter Film, der in schimmernden Sepiatönen von Vergangenheiten und Geheimnissen erzählt, von einer verloren gegangenen alten Welt, die er in zauberhaft nostalgischen Bildern rekonstruiert und nun wie unter einem Glassturz ausstellen und bewahren will. Wenn hier der Blick über Art-déco-Plakate schweift, ein Akkordeon Walzer und Tango spielt, ein raubvogelartiger Antiquar (Christopher Lee) über seinen Büchern thront, ein Blumenmädchen (Emily Mortimer) schmachtet oder ein älterer Herr sich um eine Dame mit Hündchen bemüht, das sich immer in seinen Hosenbeinen verbeißt, dann wird all dies zur Hommage nicht nur an das Vorkriegsfrankreich, sondern auch an den poetischen Realismus, mit dem damals Regisseure wie  Marcel Carné oder René Clair im Kino reüssierten. Überhaupt steckt diese Geschichte voller Zitate: Fairbanks oder Chaplin lassen grüßen, Teile aus Filmen von Jean Renoir und Harold Lloyd werden sogar nachinszeniert.

Aber Scorseses Film, der auf einer wunderbar eigenwilligen Graphic Novel von Brian Selznick basiert, will cineastisch noch viel weiter zurück, seine Hymne auf die romantische Welt der Mechanik wird immer mehr zur Feier des großen Kinopioniers George Méliès. Und wenn Isabelle ihren Herzschlüssel in Hugos Automaten steckt, fängt dieser zu ticken, zu surren, zu klackern an und zeichnet ein Bild. Es ist ein Bild aus Méliès‘ berühmtestem Film „Die Reise zum Mond“, das ikonografisch gewordene Bild von der Rakete, die im weinenden Auge unseres Trabanten steckt. Woher Isabelle aber ihren Schlüssel hat und was Hugos Automat mit einem der ersten Stummfilmregisseure zu tun hat, darf hier nicht verraten werden.

Verraten werden aber darf, dass Scorsese in seiner als Kinderfilm getarnten (und für Kinder auch durchaus geeigneten) Hommage an die Ursprünge des Kinos nun auch große Teile der sehr charmanten „Reise zum Mond““ vorführt – in einer eingefärbten Fassung, die vor Kurzem wiederentdeckt wurde. Und dann sogar in 3-D, das es zu Méliès‘ Zeiten im Kino noch nicht gab! Aber Scorsese will eben nicht das verstaubt Museale, sondern die frische Erinnerung. Diese visuelle Hymne auf die physisch greifbare Welt der Mechanik hat er deshalb auch mit Hilfe des Computers inszeniert. Und weil das Resultat sich wirklich sehen lassen kann, will man dabei nicht von Betrug sprechen, sondern von einer ganz besonderen Art der romantischen Ironie.

Hugo Cabret. USA 2011. Regie: Martin Scorsese. Mit Asa Butterfield, Ben Kingsley, Chloe Moretz, Sacha Baron Cohen, Emily Mortimer. 126 Minuten. Ab 6 Jahren. Cinemaxx Mitte, Metropol, Ufa