Die Internationale Hugo-Wolf-Akademie macht aus der Not eine Tugend: Auf ihrer digitalem Liedbühne gibt es Spannendes zu entdecken.

Stuttgart - In Zeiten pandemiebedingter, schier endloser Begrenzungen ist das Internet noch mehr als zuvor zum neuen Land der unbegrenzten Möglichkeiten geworden. Dorthin fliehen mittlerweile sogar die erklärten Verteidiger der Live-Kunst, und der gestreamten Schätze sind so viele, dass manche Perle Gefahr läuft, in den Tiefen des virtuellen Nirwanas zu verschwinden.

 

Ganz besonders gilt dies für jenen Kessel Buntes, der sich Youtube nennt. Dabei hat die Internationale Hugo-Wolf-Akademie hier ein aufregendes Konzertereignis eingespeist. Über seine Online-Liedbühne, die im Februar schon der Bariton Konstantin Krimmel und der Pianist Marcelo Amaral mit Liedern aus Schuberts „Winterreise“ und mit dessen „Litanei auf das Fest Allerseelen“ bereicherten, verlinkt der Stuttgarter Veranstalter im März den Mitschnitt eines „Geisterkonzerts“ mit der Sopranistin, Schauspielerin und Sprechkünstlerin Salome Kammer und dem Akkordeonisten Teodoro Anzellotti. Zu hören ist – als verspätete Hommage an den 2020er-Jubilar – Musik des 20. und 21. Jahrhunderts über Gedichte von Friedrich Hölderlin, komponiert von Benjamin Britten, Hanns Eisler, Hans Zender und Charlotte Seither.

Hölderlin-Hommage auf höchstem Niveau

Klingt sperrig, ist es aber gar nicht. Das liegt daran, dass die Hugo-Wolf-Akademie in den Stream Gespräche mit den Künstlern einbettet. Es liegt an der zwingenden Dramaturgie des Konzertes. Und es liegt an der Qualität der Darbietungen. Teodoro Anzellotti hat die ursprünglichen Klavierparts der Lieder von Britten (Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61) und Eisler (Hölderlin-Fragmente aus „Hollywooder Liederbuch“) ganz wunderbar für sein Akkordeon bearbeitet und füllt bei Hans Zenders „Ein Wandersmann . . . zornig“ („Hölderlin lesen“ V) zwingend die Lücken im Text. Und die Rezitation von Hölderlins „An die Madonna“ durch Salome Kammer wird zum stillen Zentrum der Darbietung: Hier wirken die abbrechenden Sätze und Gedanken im vielstimmig behausten Kopf des Dichters so, als folge das Unvollendete einem ästhetischen Plan. Und wer Kammers vertiefte Sprach-Performance im Ohr hat, versteht sofort, was danach Charlotte Seither mit ihren neun Fragmenten aus Hölderlins Fragmenten („HörenMachen“ für Stimme allein) versucht – nämlich die Reduzierung der Reduzierung, die Fokussierung auf ein Individuum, das in manischen Wiederholungen wie im Rhythmus Halt sucht und dessen Sprechakte, durch Bodypercussion, Schnalzen und Pfeifen verstärkt, mal in kurzen Silben, mal in gezischten Lauten ersterben.

Das Glück der Subvention

Ansonsten produziert die Akademie Videos – zuletzt mit Helene Schneiderman, demnächst mit der Mezzosopranistin Olivia Vermeulen und ihrem Liebesliederprogramm „Dirty Minds“. Darüber hinaus ist die Intendantin Cornelia Weidner eifrig mit Umorganisieren beschäftigt. „Momentan fühlt man sich“, sagt sie, „als würde man im Nebel fahren. Wie soll ich jetzt schon wissen, wie die Inzidenzwerte im April sein werden?“ Teilweise sei es sehr schwierig, neue Termine für ausfallende Konzerte zu finden, weil die Terminpläne der Künstler ab dem Spätsommer prallvoll mit verschobenen Auftritten seien.

In Kooperation mit der Klassik-Streaming-Plattform Idagio veröffentlicht die Akademie kleinere Mitschnitte von Wettbewerbsgewinnern. Und live geplant sind – neben dem Beitrag zum Musikfest Stuttgart und dem schon dreimal verschobenen Hölderlin-Abend mit Daniel Behle (am 4. Juni im Mozartsaal) – auch Open-Air-Formate. „Ohne die Förderung der öffentlichen Hand“, so die Intendantin, „könnten wir all das nicht machen. Für dieses Privileg sind wir unendlich dankbar.“