Die EU hält das Human Brain Project für vielversprechend und will es mit einer Milliarde Euro fördern. Doch über die Verheißungen wird nun öffentlich diskutiert: Was ist der richtige Weg, um das Gehirn zu verstehen? Und ist das überhaupt ein realistisches Ziel?

Stuttgart - Der nur millimetergroße Fadenwurm Caenorhabditis elegans, der sich im Erdreich von Bakterien ernährt, gehört zu den am besten untersuchten Organismen der Wissenschaft. Seit 1986 ist zum Beispiel bekannt, dass er über genau 302 in seinem Körper verteilte Nervenzellen verfügt. Sie verarbeiten Reize und steuern die Muskeln. C. elegans, wie der Wurm in der Fachwelt genannt wird, ist üblicherweise ein Zwitter. Es gibt aber auch Männchen, die 81 Nervenzellen mehr haben und damit Partnerinnen suchen und kopulieren können. Über alle diese Nervenzellen ist nicht nur bekannt, dass es sie gibt, sondern auch, wie sie miteinander verknüpft sind.

 

„Aber wir verstehen immer noch nicht, wie dieses Gehirn funktioniert“, sagt Bernhard Schölkopf, einer der Direktoren am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, das seinen Sitz sowohl in Stuttgart als auch in Tübingen hat. Wie soll das dann erst mit dem menschlichen Gehirn gelingen, so Schölkopfs rhetorische Frage, das an die 100 Milliarden Nervenzellen umfasst, die im Durchschnitt mit jeweils tausend anderen Nervenzellen verbunden sind? Schölkopf gehört zu 487 Wissenschaftlern, die in einem offenen Brief an die EU-Kommission das Human Brain Project kritisieren. Die EU-Kommission hatte im Januar 2013 angekündigt, dieses Vorhaben gemeinsam mit den EU-Staaten über zehn Jahre mit insgesamt einer Milliarde Euro zu fördern. Die Unterzeichner des offenen Briefs drohen jedoch, sich nicht um diese Mittel zu bewerben, sollte das Human Brain Project nicht gründlich überprüft werden (die StZ berichtete).

Der Vorwurf, unrealistische Ziele zu verfolgen, begleitet das Projekt und seinen Kopf Henry Markram von der ETH Lausanne schon seit langem. Es geht um nicht weniger, als mit der Hilfe von Computern das menschliche Gehirn zu verstehen. Computer seien inzwischen leistungsfähig genug, um dieses Ziel in greifbare Nähe zu rücken, heißt es auf der Website des Projekts. Dass man über die Chancen nachdenkt, die Supercomputer bieten, hält auch Schölkopf für sinnvoll. Aber skeptisch ist er trotzdem. Andere Kollegen tragen dicker auf: Herwig Baier, Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München, hat zum Beispiel nicht nur den offenen Brief unterzeichnet, sondern in einem Kommentar dazu auch vermerkt: „Fast jeder mit einem menschlichen Gehirn wusste von Anfang an, dass das Human Brain Project wirklich mangelhaft war.“

Das Projekt gehört eher zur Computerwissenschaft

Der 20-köpfige Vorstand des Human Brain Projects hat schriftlich geantwortet (hier als PDF) und als erstes festgehalten, dass der Anspruch nicht sei, das Gehirn zu erforschen, sondern vielmehr ein wichtiges Instrument dafür bereitzustellen: eine IT-Plattform für die fachübergreifende Zusammenarbeit. Darunter verstehen die Forscher zum Beispiel Datenbanken, in denen klinische Daten von Patienten mit neurologischen Leiden zusammengeführt und analysiert werden. Vor allem aber verstehen sie darunter Supercomputer, die mit den bisherigen Erkenntnissen über das menschliche Gehirn gefüttert werden, um es in Teilen zu simulieren. Dabei sollen auch Computerbauteile entwickelt werden, die Prinzipien des menschlichen Gehirns kopieren. Das Gehirn beeindruckt die Wissenschaftler mit schnellen und effizienten Berechnungen. Ob eine solche IT-Plattform funktioniere, wisse man nicht, schreibt der Vorstand des Human Brain Projects, aber die Kritiker wüssten es nicht besser, da es noch nie versucht worden sei.

„Ich muss gestehen, dass ich das Projekt am Anfang anders wahrgenommen habe“, sagt Bernhard Schölkopf. „Da wurde der Eindruck vermittelt, man werde innerhalb von zehn Jahren das Gehirn recht genau simulieren, dadurch weniger Tierversuche brauchen und einige menschliche Krankheiten besser verstehen.“ Schizophrenie und Alzheimer werden in diesem Zusammenhang oft genannt. „Das scheint mir unrealistisch zu sein“, sagt Schölkopf, „nicht nur in zehn Jahren, sondern vielleicht sogar in 50 oder 100 Jahren.“ Für eine exakte Simulation würde sich aus seiner Sicht der Wurm C. elegans anbieten. Wenn es gelingen sollte, dieses System von gut 300 Nervenzellen zu verstehen, „wäre das ein überzeugendes Argument, sich an die Simulation komplexer Gehirne zu machen“.

Karlheinz Meier von der Universität Heidelberg, der Mitglied im Vorstand des Human Brain Projects ist, geht die Sache hingegen von der anderen Seite an. Seine Strategie sieht zu Beginn eine große Simulation vor, in der das gesamte Detailwissen über das menschliche Gehirn steckt. Im Human Brain Project wolle man diese Simulation Schritt für Schritt kontrolliert vereinfachen, um zu sehen, was sich dadurch verändert, sagt er. Auf diese Weise könne man zwischen zwei Aspekten des Gehirns trennen: zwischen der Biochemie der Nervenzellen und den abstrakten Rechenprinzipien des Gehirns. Eine solche Unterscheidung gibt es auch beim Computer: Man kann dessen Arbeit beschreiben, indem man den Stromfluss in den Chips nachvollzieht, aber es gibt auch eine andere Sichtweise, nach der der Computer mit Einsen und Nullen rechnet. Auf die abstrakten Prinzipien hat es der Physiker und Computertechniker Meier abgesehen. „Diese Modelle mit systematisch reduzierter Komplexität werden wir dann in meiner Arbeitsgruppe verwenden, um neue Computerarchitekturen zu realisieren“, sagt er.

Die EU-Kommission sieht auch die Kritiker in der Pflicht

Für die experimentelle Forschung am und mit dem menschlichen Gehirn, die von den Unterzeichnern des offenen Briefs eingefordert wird, stehen nach Angaben des Human Brain Projects trotz der Ausrichtung auf Computertechnik rund 20 Prozent des Budgets zur Verfügung.

Auch die EU-Kommission hat sich zum Fall geäußert: Die Ausrichtung des Projekts sei Sache der beteiligten Wissenschaftler. Bis September werde nun geprüft, wie das Human Brain Project seinen Start gemeistert habe und wie solide die Pläne für die nächste Phase sind. Die EU-Kommission hält jährlich 50 Millionen Euro aus ihrem Förderprogramm für die Computerwissenschaften bereit. Hinzukommen sollen weitere 50 Millionen im Jahr von den EU-Staaten. An die Prüfung stellen die Unterzeichner des offenen Briefs Bedingungen, die eigentlich nicht der Rede wert sein dürften: Die Gutachter sollten fachlich anerkannt und unabhängig sein. Karlheinz Meier versteht die Aufregung nicht. Mit dem Vorhaben beschreite man einen neuen Weg, sagt er, „aber er ist begründet, im Detail beschrieben und von internationalen Gutachtern als exzellent bewertet worden“.

Und dann gibt die EU-Kommission den Kritikern des Human Brain Projects auf diplomatische Weise noch einen mit: In der Anfangsphase eines so großen Projekt sei jeder Hinweis hilfreich, schreibt sie in ihrer Stellungnahme. Um ein so bahnbrechendes Vorhaben zu etablieren, müssten die Forscher aber ihren Teil dazu beitragen.

Viel Geld und viel Diskussion

Projekt
Das Human Brain Project ist eines von zwei Flaggschiffen der EU-Forschungsförderung, die im Januar 2013 ausgewählt und mit jeweils einer Milliarde Euro gefördert werden. Das andere Projekt widmet sich der Erforschung von Graphen, einem neuartigen Werkstoff aus Kohlenstoff. Im Unterschied zum neurowissenschaftlichen Projekt, über das öffentlich diskutiert wird, hört man vom Graphen-Projekt bisher wenig. Beide Vorhaben sind auf zehn Jahre angelegt und sollen auch zu medizinischen und industriellen Fortschritten führen.

Kritik
Forscher kritisieren am Human Brain Project, dass es unrealistische Ziele verfolge und dass die Förderung einzelner guter Forschungsprojekte mehr bringen würde. Die Vertreter des Projekts halten dagegen, dass eine Zusammenführung der einzelnen Erkenntnisse dringend nötig sei. Kritisiert wird außerdem ein intransparentes Management des Projekts. Der Vorstand des Human Brain Projects hält die derzeit laufende Begutachtung durch die EU-Kommission für eine geeignete Maßnahme, um genau diesen Punkt zu prüfen.

Konkurrenz
Die EU gibt jedes Jahr etwa eine Milliarde Euro für neurowissenschaftliche Projekte aus. Die USA planen derzeit ebenfalls ein großes Hirnforschungsprojekt, das Brain Initiative genannt wird. Es soll im Großen und Ganzen ein Bild des arbeitenden Gehirns zeichnen. Die Forscher haben ein Budget von umgerechnet 3,3 Milliarden Euro beantragt.