Die Islamistenmilizen haben Mogadischu verlassen. Das bringt eine Atempause. Doch Hunger und Cholera fordern weiter ihren Tribut.  

Mogadischu - Seit sechs Stunden wartet Fatuma in der prallen Sonne. Falls sie heute wieder mit leeren Händen nach Hause kommt, werden ihr Mann und ihre vier Kinder nichts zu essen haben. Ihre vom Hunger geschwächte jüngste Tochter hat Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Als der Stacheldraht kurz aufgezogen wird, sucht die 23-jährige Mutter ihre Chance wahrzunehmen und schiebt sich mit aller Macht nach vorn. Doch auch die Frauen neben ihr erkennen die Gelegenheit und drücken ebenfalls, so stark sie können. Schon hängt Fatumas sechsjährige Tochter Mushilima im Stacheldraht und schreit. Wütend schlägt die Aufseherin mit dem Stock in die Menge - auch Fatuma und Mushilima kriegen ihre Hiebe ab. Weniger aus Schmerz denn aus Empörung schießen Fatuma die Tränen in die Augen: "Das Schlimmste am Hunger ist", sagt der die Szene beobachtende Abdirisack Hashi, "dass er den Menschen auch noch die Würde nimmt."

 

Der Programmdirektor der südafrikanischen Hilfsorganisation Gift of the Givers hat einige Vorkehrungen getroffen, um die missliche Lage der Frauen wenigstens etwas zu entspannen: Sie werden bereits außerhalb der Sichtweite der Nahrungsmittel in Schlangen formiert und müssen mehrere Schleusen passieren, um zur Ausgabe der über Tod oder Leben entscheidenden Güter zu gelangen. "Würden wir das nicht tun", sagt der ausgebildete Chirurg, "gäbe es hier täglich Blutvergießen". Selbst so kommt es immer wieder zu Zwischenfällen: Am Samstag wurde die Verteilung des angereicherten Maispulvers schon mittags abgebrochen, nachdem sich einige Frauen anschickten, das Warenlager zu stürmen. Manche sind vom Stress und den Strapazen dermaßen mitgenommen, dass sie noch auf dem Weg zur Lebensmittelausgabe zusammenbrechen: Sie werden zur Behandlung in einen Raum gebracht, dessen drei Liegen momentan von sechs vom Hunger ausgezehrten und vom Durchfall gepeinigten Körpern belegt sind.

Manche Camps werden von keiner Organisation erreicht

Howl Wadaag im Herzen der somalischen Hauptstadt Mogadischu: vor wenigen Wochen verlief hier noch die Front zwischen den Soldaten der afrikanischen Schutztruppe Amisom und den islamistischen Milizionären. Heute haben Tausende von Flüchtlingen wie Fatuma ihre aus Zweigen und Plastikplanen gebastelten Rundhütten zwischen den Häuserruinen errichtet. Die Bewohner des sich täglich vergrößernden Camps können sich dabei noch glücklich schätzen: Nur wenige Flüchtlingslager der Stadt, deren Zahl nicht einmal die Verantwortlichen der somalischen Übergangsregierung kennen, haben eine Hilfsgüterverteilstation in ihrer Nachbarschaft. Manche der Camps würden von keiner Organisation erreicht, sagt ein Offizieller. Gift of the Givers ist eines der wenigen ausländischen Hilfswerke, das überhaupt in Mogadischu tätig ist: Den meisten Helfern ist das Pflaster zu heiß.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) schafft zwar regelmäßig größere Mengen von Lebensmitteln in die zerstörte Stadt, lässt sie jedoch von einheimischen Partnern verteilen, die zumindest einen Teil der Waren auf den Schwarzmarkt leiten. Dort ist ein WFP-Karton mit sechs Dreiliterflaschen Speiseöl für 25 Dollar zu haben ist, ein 50-Kilo-Sack Maismehl wechselt für 20 Dollar den Besitzer. "So kann man das nicht machen", sagt Dr. Hashi ärgerlich: "Da muss man doch selber mit rein." Das ist auch für den vor 45 Jahren in Somalia geborenen Arzt nicht ungefährlich. Hashi lässt sich in der Regel von zwei bewaffneten Bodyguards begleiten: Sie sollen allerdings eher die Ganoven, die es auf seinen Geländewagen oder seinen weißen Besucher abgesehen haben könnten, als islamistische Milizionäre abschrecken.

Nur noch ab und zu sind Schüsse zu hören

Die meisten Al-Schabab-Kämpfer haben Mogadischu vor zwei Wochen verlassen: Ihr monatelanger Kampf gegen die überlegenen Amisom-Soldaten, interne Querelen und die Hungersnot haben die bärtigen Kämpfer zu ihrem Rückzug gezwungen. "Wir haben sie geschlagen", triumphiert der Befehlshaber des ugandischen Amisom-Kontingents, Oberst Paul Lokech: "Sie werden in Mogadischu keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen."

Tatsächlich sind in der Stadt inzwischen nur noch ab und zu Schüsse zu hören - ein markanter Unterschied zum ersten Halbjahr, als neben hupenden Autos und dem Ruf der Muezzins das Geknatter automatischer Gewehre und die Detonationen von Mörsergranaten zur schaurigen Melodie der Stadt gehörten. Er würde den Islamisten gerne nachstellen und sie aus dem ganzen Land verjagen, fügt Oberst Lokech hinzu. Dafür reichten allerdings die 9000 Amisom-Soldaten nicht aus: Eine internationale Eingreiftruppe zur Sicherung der befreiten Hauptstadt und zum Schutz der Hilfsgüterverteilung sei deshalb erforderlich.

Putzkolonnen werden erstmals wieder tätig

Noch ist Mogadischu ein bloßer Brückenkopf: Schon die Fahrt ins dreißig Kilometer entfernte Städtchen Dschasira ist selbst für den furchtlosen Dr. Hashi "viel zu gefährlich". Dschasira gehört zum Herrschaftsbereich Abdikadir Nurs - theoretisch, denn der von der Übergangsregierung eingesetzte Gouverneur kann seine Provinz Lower Schabelle schon seit zwei Jahren nicht mehr betreten. In deren Hauptstadt Merka hat sich unterdessen Al-Schabab-Kommandeur Abu Abdillahi breitgemacht, den der Gouverneur nur den "Terroristen" nennt. Abdillahi sei jetzt allerdings auch am Ende angelangt, weil ihm die Leute wegstürben oder das Weite suchten, sagt Nur. Denn Lower Schabelle gehört zu den von der Hungersnot am schlimmsten betroffenen Regionen des Landes. Abdillahi sei zum moderaten Flügel der Islamisten zu zählen, die den Kontakt zur Regierung in Mogadischu suchten, um ausländischen Hilfsorganisationen schließlich doch den lange verweigerten Zugang zu ihren Gebieten zu öffnen. "Denn selbst Terroristen wollen nicht nur über Leichen herrschen", sagt der Gouverneur und lacht.

Für Nur ist die Hungersnot außer einer Katastrophe auch eine "goldene Gelegenheit", da seit zwanzig Jahren seiner im toten Winkel der Weltöffentlichkeit verrottenden Heimat nicht mehr so viel Aufmerksamkeit zuteil geworden sei wie in diesen Tagen. Was der Gouverneur meint, wird auf dem Makamukarama-Boulevard, Mogadischus Hauptstraße, deutlich: Dort schippen Putzkolonnen erstmals seit Jahren wieder den Schutt von der Straße und füllen damit die riesigen Schlaglöcher. Die die Straße säumenden Ruinen sind zwar nicht wegzuretuschieren, aber wenigstens werden sie mit Fahnen geschmückt: blaue mit weißem Stern für den gescheiterten Staat Somalia, rote mit weißem Stern und Halbmond für die Gäste.

Ihren moralischen Triumph weiß die Regierung zu feiern

Anlass der Verschönerungsaktion ist nämlich der Überraschungsbesuch des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan: die erste Visite eines nichtafrikanischen Regierungschefs in Somalia seit mehr als zwanzig Jahren. "Sie können sich nicht vorstellen, was das für uns bedeutet", sagt Gouverneur Nur. "Jetzt wird hier niemand mehr sterben." Ihren moralischen Triumph weiß die Regierung zu feiern. Der Raum im "Villa Somalia" genannten Präsidentenkomplex, in dem Erdogan gemeinsam mit Somalias Übergangsstaatschef Achmed Scheich Scharif der Presse präsentiert wird, ist außer mit Fähnchen und schweren Teppichen mit Plastikblumengestecken herausgeputzt.

Draußen spielt eine Kapelle auf. Die gesamte somalische Hautevolee ist auf den Beinen. Zu donnerndem Applaus kündigt Erdogan in seiner Rede die Eröffnung einer Botschaft an - es wäre die erste diplomatische Vertretung, mit der sich der Pariastaat zieren kann. Dass während der Zeremonie unweit der Villa Somalia eine wohl von den Heiligen Kriegern abgefeuerte Mörsergranate aufs offene Gelände fällt, kriegen die versammelten Honoratioren nicht mit: Nur die schwarz gekleideten türkischen Elitesoldaten werden noch etwas nervöser.

"Mit Terroristen redet man nicht. Man schaltet sie aus"

Auf die Frage, wie seine Regierung die Gelegenheit ergreifen werde, die ihr die Hungersnot biete, antwortet Präsident Scharif sophistisch: Angesichts der Katastrophe von einer Chance zu reden sei zwar verfehlt, aber seine Regierung werde die Chance trotzdem nutzen und Somalia bald wieder auf die Beine bringen.

Abdullahi Schirwa, der Chef des Dachverbandes somalischer Nichtregierungsorganisationen, ist davon noch nicht überzeugt: Machtkämpfe, chronische Korruption und die berüchtigten Clanloyalitäten drohten auch diese Administration - wie ihre 17 Vorgänger in den vergangenen zwei Jahrzehnten - zum Scheitern zu bringen. Das Wichtigste wäre nach Schirwas Auffassung jetzt, die moderaten Kräfte innerhalb Al-Schababs mit einer Charmeoffensive und einem Amnestieangebot im Namen der nationalen Versöhnung zu gewinnen - alleine schon, um auch ihre Herrschaftsgebiete für die dringend erforderliche Nothilfe zu öffnen. Gouverneur Nur winkt allerdings ab: "Mit Terroristen redet man nicht. Man schaltet sie aus."

Täglich sterben mehrere Kinder

So werden sich Mogadischus Krankenhäuser wohl weiter mit vom Hunger und der Cholera versehrten Patienten anfüllen. Gegenwärtig werden täglich mehr als 150 bis aufs Skelett abgemagerte Kinder alleine ins Banadir-Hospital gebracht. Täglich sterben mehrere von ihnen. Wenigstens meldet das auf Kriegsverletzungen spezialisierte Madina-Hospital eine eindeutige Entspannung: Wurden dort noch bis vor Kurzem täglich bis zu 80 von Kugeln oder Granatsplittern aufgerissene Patienten eingeliefert, so sind es heute höchstens noch drei. Auch im zuletzt am heftigsten umkämpften Kriegsschauplatz, dem im Norden Mogadischus gelegenen Bakara-Markt, ist es inzwischen ruhig geworden - für viele sogar zu ruhig: Aus Furcht vor Minen ist der gesamte Stadtteil abgesperrt, die nervösen Geschäftsleute werden auf später vertröstet.

Dagegen regt sich in den Ruinen im Süden der Stadt bereits neues Leben - auch sie wurden erst vor zwei Wochen von den Islamisten geräumt. Der Distriktkommissar Mohammed Nor, der zwei Jahre lang ein Kommissar ohne Distrikt war, ist mit mehreren Dutzend Familien in die alte Heimat zurückgekehrt: Dort reißen sie das in den Trümmern gewachsene Buschwerk aus und bauen ihre Zelte auf. Bei den Rückkehrern handelt es sich um Angehörige einer ersten Welle von Vertriebenen, die bereits während der chaotischen Herrschaft der Kriegsfürsten in den 90er Jahren hier ihre Hütten zwischen den Ruinen errichteten: Die ursprüngliche Bevölkerung, die einst die opulenten Villen mit Blick auf den azurblauen Indischen Ozean bewohnte, lebt längst in alle Welt verstreut. "Wir können den Leuten vielleicht beim Herausreißen der Büsche helfen", sagt Vizebürgermeister Ali Ahmed Gure nüchtern: "An den Wiederaufbau dieses einst schönsten Teils der Stadt ist derzeit nicht mal zu denken."

Helfer brauchen Spenden

Kontonummern: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, hat die Kontonummer 20008850 bei der Sparkasse KölnBonn, BLZ 370 501 98. „Aktion Deutschland Hilft“ ist zu unterstützen mit dem Konto 102030 bei der Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 370 205 00. Das „Bündnis Entwicklung Hilft“ hat das Spendenkonto 51 51, ebenfalls bei der Bank für Sozialwirtschaft BLZ 370 205 00.

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