Der „Fall Böhmermann“ entwickelt sich zur Staatsaffäre. Bei Anne Wills Talk-Runde entsteht der Eindruck, die Freiheit Deutschlands müsse jetzt verteidigt werden.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Was macht eigentlich Jan Böhmermann? Der sitzt vielleicht zuhause vor dem Fernseher und beobachtet mit allergrößtem Genuss, was er angerichtet hat – oder er bereitet wahrscheinlich schon den nächsten Coup vor. Eine Minute hat der Komiker gebraucht, um vor gut einer Woche in der Late-Night-Show Neo Magazin Royale mit seiner „Schmähkritik“ und den darin enthaltenen handfesten Beleidigungen des türkischen Staatschefs Reccep Tayyip Erdogan eine veritable Staatsaffäre loszutreten. Diesen Eindruck hinterlässt zumindest die Diskussion bei Anne Wills Talk-Runde am Sonntagabend. Selbst gekommen ist Böhmermann nicht - trotz ausdrücklicher Einladung, wie die Moderatorin Will betont. Der Künstler zieht es vor, zu schweigen, ein für ihn eher untypisches Verhalten.

 

Geredet haben bei Anne Will also die anderen. Natürlich hat jeder etwas zu sagen, ohne dass genau klar wird, was das zentrale Thema der Sendung ist. Geht es um schlechten oder guten Geschmack? Um die Frage, was Satire noch darf und wo sie unerlaubt Grenzen überschreitet? Um die Verteidigung der freien Meinungsäußerung? Oder geht es im Grunde um ganz große Politik? Dass Deutschland vor der Türkei kuscht, weil man den ungeliebten Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise braucht? Irgendwie war von allem etwas dabei.

Die Aufgabe, die Diskussion immer wieder auf den Punkt zu bringen, hat an diesem Abend Böhmermanns Kollege Serdar Somuncu. Der türkischstämmige Kabarettist spielt den Ball gleich zu Beginn der Sendung weit ins Feld, indem er sagt: „Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich hinter ihren Künstler stellt.“

Der CDU-Politiker Elmar Brok erklärt mit dem Brustton der Überzeugung, dass die deutsche Bundeskanzlerin genau das getan habe, kann dann im Verlauf aber nicht wirklich den Widerspruch auflösen, dass Angela Merkel telefonisch beim dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu vorstellig geworden ist und das Spott-Gedicht als „bewusst verletzend“ brandmarkte. Die Frage, ob sie Böhmermann damit in den Rücke gefallen ist oder nicht, kann bei Anne Will nicht abschließend geklärt werden. Einig sind sich allerdings alle: man muss das Schmähgedicht nicht gut finden.

Also geht es doch nur um schlechten Geschmack? Das will Fatih Zingal, der stellvertretende Vorsitzende der Erdoğan nahestehenden Union Europäisch-Türkischer Demokraten, so nicht stehen lassen. Mit der geschulten Rhetorik eines Rechtsanwalts dröselt er den Fall Böhmermann aus seiner Sicht auf: Das Gedicht sei keine Satire, sondern Schmähkritik. Und deshalb nicht geschützt von der Kunstfreiheit und könne aus diesem Grund juristisch verfolg werden. Daran ändere auch die als Haftungsausschluss vorangestellte Vorrede Böhmermann nichts, die Anne Will kurz einspielen lässt. Das Gedicht selbst wird freilich nicht gesendet – so viel Chuzpe hatte allerdings auch niemand von der ARD erwartet.

In dem Wortgetöse ist es der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der der Diskussion immer wieder interessante Gedanken hinzuzufügen. Der Moderator habe eine Art Hybrid geschaffen, doziert der Professor sichtlich beeindruckt, also einen Zwitter aus Satire und Schmähkritik. Der Fall sei ein „Lehrbeispiel für globale Empörungsepidemien“, die sich im Internetzeitalter blitzschnell ausbreiten und eben auch diplomatische Krisen auslösen können. Darauf seien wir noch nicht vorbereitet, so Pörksen. So viel zur Theorie, gefallen habe ihm das Gedicht selbst aber auch nicht.

Doch wie soll die Bundesregierung auf die Aufforderung der Türkei reagieren, die Strafverfolgung wegen der Schmähkritik aufzunehmen? Für Pörksen ist das eine „albtraumhafte Vorstellung“ und selbst der CDU-Politiker Brok glaubt nicht daran.

Und dann braucht es wieder einmal den Scharfsinn des Satirikers Somuncu, der das Gespräch schließlich auf den Kern des Problems leitete. „Wir reden hier über Albernheiten. Hat Angela nichts Besseres zu tun als das Neo Magazin Royale zu schauen? Guckt Erdoğan deutsches Fernsehen?“, fragte Somuncu und ergänzte: „Was wir heute besprechen, ist die Frage: Ist die Kanzlerin erpressbar geworden, weil sie die Türkei plötzlich braucht?“

Und plötzlich sind die Politiker in der Runde hellwach. Brok verteidigt den Deal mit Ankara, die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen tut das Gegenteil und für Fatih Zingal ist das Glas irgendwie halbvoll und nicht halbleer, schließlich müsse man auch einmal die positiven Entwicklungen in der Türkei anerkennen. Genau das aber fällt schwer in einem Land, das Leute ins Gefängnis wirft, die ihre Meinung frei äußern wollen.