Ian McEwan spielt in seinem Roman „Nussschale“ großes Drama mit einem Embryo als Helden. Doch es bleibt bei einer Kopfgeburt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es gibt eine Menge ungewöhnlicher Erzählperspektiven. Die Weltliteratur ist voll von Berichten sprechender Hunde, Kater oder Käfer. Selbst Tote melden sich hin und wieder zu Wort. Das Verdienst allerdings, die embryonale Erzählhaltung in die Literatur eingeführt zu haben, gebührt dem britischen Romancier Ian McEwan. Wobei noch zu klären wäre, ob es sich dabei wirklich um ein Verdienst oder nicht eher um ein Vergehen handelt.

 

Jedenfalls steckt der Held von McEwans neuem Roman „Nussschale“ kopfunters im letzten Schwangerschaftsdrittel seiner Mutter fest und muss von dieser eingezwängten Situation aus feststellen, was schon Ödipus bei Sophokles so ähnlich empfand: dass es vielleicht am besten wäre, gar nicht erst geboren zu werden. Denn die Welt da draußen verspricht für ihn, kein allzu angenehmer Ort zu sein. Die Mutter scheint ein ziemliches Miststück, das den feingeistigen Dichtervater des ungeborenen Beobachters nicht nur mit dessen Bruder nach Strich und Faden betrügt, sondern, schlimmer noch . . . Na, klingelt es?

Damit wären wir von Ödipus bei Hamlet angelangt, die trächtige Trudy und ihr Schwager Claude treiben nämlich dasselbe frivole Spiel wie Gertrude und Claudius in Shakespeares wohl berühmtesten Drama. Der um seinen Vater geprellte Sprössling in spe kann sich nicht so recht entschließen, ob er nun eigentlich sein will oder lieber doch nicht. Und schon hier wird deutlich, dass es sich bei diesem Roman um eine ziemliche Kopfgeburt handelt.

Die Probleme der Welt hat dieser Fötus noch vor der Muttermilch aufgesogen

Man muss schon eine ganze Menge schlucken, um dem frühreifen Kerlchen in seiner pränatalen Weltdeutung zu folgen. Und geschluckt wird hier tatsächlich so manches, so dass man am ehesten noch geneigt ist, dem ungewöhnlichen Erzähler eine ausgeprägte Kennerschaft für französische Rebsorten zuzubilligen. Ganz abgesehen davon, dass bei dem verbotenen Treiben zwischen Trudy und Claude noch ganz andere Säfte in nächste Nähe des kleinen Westentaschen-Hamlets geraten. Sex and Crime müssen über die Durststrecken hinwegtragen, die die altklugen Ergüsse aus der Fruchtblase dem Leser bereiten.

Dass etwas faul ist, nicht nur im Staate Dänemark, sondern insgesamt, weiß dieser Prototyp intrauteriner Bildung genau, dank der vielen Podcasts, mit denen sich seine Mutter die lange Weile bis zur Reife verkürzt. Klimawandel, Islamismus, Flüchtlinge, demographischer Wandel – die Problemherde der Welt hat der geschwätzige Fötus noch vor der Muttermilch aufgesogen. Was er nun aus dem Bauch predigt, klingt wie der Durchschnittsreim, den sich das politische Feuilleton auf die Weltlage macht. Und man kann sich aussuchen, welche Spruchweisheit seine Diagnosen autorisieren soll: „In vinum veritas“ oder „Kindermund tut Wahrheit kund“.

In Wirklichkeit keine von beiden. Denn hier ist alles so grundverkehrt, wie die Lage eines Embryos im Mutterleib nur sein kann. Auf diese windige Idee einen Roman gründen zu wollen, ist nur durch eine eklatante Fehlleistung der literarischen Hebammenkunst zu erklären. McEwans „Nussschale“ birgt ein Windei. Alle Versuche, dies symbolisch, intertextuell, essayistisch oder genretechnisch zu bemänteln, scheitern kläglich.

Von allen Geschöpfen das schwächlichste

Ein kleiner flinker Krimi hätte aus dem Stoff vielleicht werden können, eine freche zeitgenössische Hamletparaphrase. Doch wie so manche ehrgeizigen Eltern wollte der Autor mehr, sein bemitleidenswerter armer Tropf muss schon in der Gebärmutter Versmaße bimsen wie andere erst in der Alma Mater.

Jede Unwahrscheinlichkeit seiner erzählenden Existenz wird durch hochkarätige Referenzen übertüncht, Keats, Auden, Joyce spuken durch die Keimblase. Dabei hätte McEwan sich an Letzterem ein Beispiel nehmen können, wie es sich anhört, wenn kleine Kinder ins Erzählen geraten: „Es war einmal vor langer Zeit und das war eine sehr gute Zeit da war eine Muhkuh die kam die Straße herunter gegangen und diese Muhkuh die da die Straße herunter gegangen kam die traf einen sönen tleinen Tnaben und der hieß Tuckuck-Baby.“ So klingen frühe Wahrnehmungen in Joyces „Porträt des Künstlers als junger Mann“. Bürokratischer geht es dagegen in McEwans „Nussschale“ zu: „So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau. Ich warte, die Arme geduldig gekreuzt, warte und frage mich, in wem ich bin und worauf ich mich eingelassen habe.“

Nicht auszudenken, wenn dieser kleine Klugscheißer einmal wirklich das Licht der Welt erblickt. Vielleicht wäre es besser, um auf Sophokles zurückzukommen, er würde nie geboren werden.

Alles in allem bezeugt dieser Roman weniger den hinterhältigen Mord an einem Dichter als die Schaffenskrise seines Autors. Von allen Geschöpfen, die der bereits zuletzt etwas schwächelnde Ian McEwan in die Welt gesetzt hat, ist dieses doch am schwächlichsten.