Schon jetzt gehört Ibach im Hotzenwald zu den am dünnsten besiedelten Landstrichen in Baden-Württemberg. Und das wird nicht anders. Die Jungen fehlen. Ibach hat keine Zukunft, sagen die einen. Ibach ist die Zukunft, glauben die anderen.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Ibach - Im Landfrauenraum im schindelverputzten Rathaus von Ibach (Kreis Waldshut) hat Doris Mutter (54) zehn Damen im Alter von 75 bis 86 Jahren um sich geschart. Die haben es jetzt lustig. Nach der Aufwärmrunde, verschiedenen Fitnessübungen und ein wenig Muskelaufbau wird zum Abschluss das Gedächtnis trainiert. „Ich packe meinen Koffer“ heißt das Spiel, wobei sich die Seniorinnen jahreszeitlich passend überlegen, was sie alles vom Oktoberfest mitbringen könnten. „Ein Lebkuchenherz“, sagt die Erste. „Ein Lebkuchenherz und Zuckerwatte“, meint die Zweite. „Ein Lebkuchenherz, Zuckerwatte und einen Mann“, sagt die Dritte, und das sorgt dann doch für Gelächter.

 

Einen Raum weiter sitzt Helmut Kaiser an seinem Schreibtisch. Der 59-Jährige mit Oberlippenbart und Brille ist aus dem benachbarten Dachsberg herüber gefahren. In dem 1600-Einwohner-Ort ist er hauptamtlicher Bürgermeister. Seit 2009 kümmert sich der CDU-Mann ehrenamtlich auch um Ibach, ein wenig wohl auch seiner Frau zuliebe, „weil die von hier stammt“. Früher war im Ibacher Rathaus auch die Schule untergebracht. Ging es in der Klasse so hoch her, wie jetzt bei der Seniorengymnastik, schaute der damalige Schultes höchstpersönlich herüber und sorgte mit strengem Blick für Ruhe.

Rekordhalter im Land

Doch das ist lange her. Seit 1981 ist die Schule geschlossen. Es fehlt an Schülern in dem 371-Einwohner-Ort. Dafür gibt es Alte. Bei 52,3 Jahren liegt der Altersdurchschnitt der Bevölkerung, hat das Statistische Landesamt ausgerechnet. Das ist fast zehn Jahre über dem baden-württembergischen Schnitt und Rekord im Land. Der Ort hat keine Zukunft, könnte man daraus schließen. Oder aber: Ibach ist die Zukunft. Denn in wenigen Jahrzehnten, das prognostizieren die Statistiker, wird es überall so sein wie hier. Was demografischer Wandel bedeutet, lässt sich hier besichtigen.

Von Sankt Blasien führt der Weg über eine kurvenreiche Landstraße in das Ibacher Hochtal. Bei klarem Wetter entfaltet sich ein fantastisches Alpenpanorama über der Streusiedlung, die von Hochmooren, Weideland und Wald umgeben ist. Am Eingang zum Ortsteil Oberibach stehen Maler auf einem Gerüst. Ein Schweizer Investor hat hier ein extravagantes Appartmenthotel hingestellt. „Die ersten Gäste kamen aus Saudi-Arabien“, meint eine Nachbarin. Doch wo andere Leute Urlaub machen, wollen immer weniger wohnen. Junge Familien gibt es kaum. Nur eine Taufe, dafür drei Beerdigungen habe er in diesem Jahr gehabt, sagt Jan Grzeszewski (56), der Pfarrer von Heilig Georg und Cyrill, einem Kirchlein mit einem 800 Jahre alten Wohnturm nebenan, der den viel kleineren Kirchturm fast erdrückt.

Der Busfahrer ersetzt das Elterntaxi

Am Morgen versammelt sich eine Handvoll Kinder an der Bushaltestelle. Die Älteren fahren zu den weiter führenden Schulen nach Sankt Blasien, die Jüngeren steigen in den Bus nach Dachsberg. Dort ist auch der Kindergarten. Klar müsse man für alle Besorgungen in die Nachbarorte fahren, sagt Mama Nicole Schmid (39). Da müsse man nicht auch noch Elterntaxi spielen. Selbst ihr Jüngster fährt Bus, seit er drei ist. Das machen hier alle so, weiß der Bürgermeister. „Man kennt ja den Busfahrer.“ Bei Schmids ist es noch so, wie es sein soll: vier Kinder, drei Generationen unter einem Dach. Opa Werner Schmid steigt auf seinen Traktor. Der 91-Jährige will in den Wald, um Holz zu machen. „Die Jungen sollten heiraten“, sagt er. Doch darauf warteten sie viel zu lange. Stattdessen zögen sie dorthin, wo die Arbeit sei. An qualifizierten Berufen, ja daran fehle es im Dorf. Für Vollerwerbslandwirtschaft habe es in diesem Teil des Hotzenwalds, wie der Südschwarzwald zwischen Alb und Wehra heißt, auch früher nicht gereicht, sagt Schmid. Er selbst arbeitete nebenher als Gemeinderechner. „Aber wir haben uns selbst versorgt.“ Doch jetzt stünden die Höfe leer. „Im ganzen Dorf gibt es keine Milch, keine Schweine, keine Hühner.“

Der „Hotzenblitz“ war seiner Zeit voraus

Auch den Sohn des Bürgermeisters hat es deshalb fortgetrieben. In Stuttgart arbeitet er beim Daimler. Dabei stand auch Ibach einmal an der Spitze der Autoindustrie. In den 1990er Jahren brachte ein Ibacher Elektromeister den „Hotzenblitz“, Deutschlands erstes Elektroauto, zur Serienreife. Doch er war seiner Zeit voraus. Dem Projekt ging das Geld aus.

Manche warten auf die Ufos

Wenn Kaiser überlegt, was in Ibach in der Vergangenheit politisch falsch gelaufen sein könnte, tut er sich schwer. Die Baulandpreise seien mit 75 bis 80 Euro pro Quadratmeter sehr moderat. Und es gibt viel Platz in dem mit 17 Einwohnern pro Quadratkilometer am dünnsten besiedelten Landstrich Baden-Württembergs. Die Häuser liegen selten näher als 100 Meter aneinander. „Da stört man sich nicht“, sagt Kaiser. Dennoch halte die Bevölkerung zusammen. Es gebe die Nachbarschaftshilfe Bürger für Bürger. Vier Gaststätten sind am Ort, dazu Vereine für jedes Hobby: Landfrauen, Schwarzwaldverein, Skiclub, Feuerwehr und Trachtenkapelle. „Es lässt sich hier gut leben.“

Letzlich seien es auch Sondereffekte, die Ibach zu dem Altersrekord verholfen hätten, meint Kaiser. Ein Pflegeheim gibt es nicht, aber in den 80er Jahren hätten viele Auswärtige gebaut, um später ihren Lebensabend in Ibach zu verbringen. „Diese Leute sind jetzt da.“ Und dann ist da noch „Fiat Lux“ (lat. „Es werde Licht“). Im Weiler Lindau bewohnt die Sekte drei weiß getünchte, überaus gepflegte Schwarzwaldhäuser, vor denen weiße Autos parken. Dort warten sie auf Raumschiffe, die sie pünktlich zum Weltuntergang abholen.

Die Hoffnung auf das schnelle Internet

In den 80er und 90er Jahren war die aus der Schweiz stammende Sektengründerin Uriella Dauerthema in den Boulevardmedien. Inzwischen ist es ruhig geworden um das selbst ernannte Sprachrohr Gottes. Nächstes Jahr wird sie 90. Sie sei schwer krank, heißt es. Auch ihr Ehemann Icordo, der einst sogar im Ibacher Gemeinderat saß, tritt nur noch in Erscheinung, wenn es um die Einrichtung einer Urnenwand auf dem Friedhof geht. Beim Einäschern verbrenne auch die Seele, warnte er den Bürgermeister. Jetzt sagt eine freundliche Frauenstimme am Telefon: „Wir haben von Jesus Christus persönlich die Anweisung erhalten, uns nicht mehr gegenüber den Medien zu äußern.“ Dass die auf 24 Mitglieder geschrumpfte Gruppe Nachwuchsprobleme hat, ist ein offenes Geheimnis. Kinder gibt es nicht. Sex ist für die stets weiß gekleideten Anhänger tabu. Irgendwann geht bei Fiat Lux das Licht aus.

Bürgermeister Kaiser hat längst einen anderen Heilsweg entdeckt. „Seit zehn Jahren bemühe ich mich um den Zugang zur Wissensgesellschaft.“ Doch das Breitband-Internet kommt in Ibach nur als dünnes Bändchen an. Die alten Kupferkabel bringen es nicht. Der nächste Hauptverteilpunkt ist zu weit weg. Einigermaßen nutzbares Internet gibt es nur per Satellit.

Jetzt endlich gibt es ein Einsehen. In einem Pilotprojekt für den ländlichen Raum stellt das Land 1,5 Millionen Euro für ein modernes Glasfasernetz zur Verfügung. Weitere 300 000 Euro muss der Ort selbst aufbringen – bei einem jährlichen Gesamtetat von 800 000 Euro ein Mammutprojekt. Für jedes Haus fielen noch einmal Anschlussgebühren von 950 Euro an. Trotzdem hätten 95 Prozent der Eigentümer die Verträge unterschrieben, sagt Kaiser stolz. „Das zeigt, wie groß die Not ist.“ Ein Planer war bereits da, um den Verlauf der Leitungen zu planen. Der staunte allerdings nicht schlecht. „Warum liegen hier denn alle Häuser so weit auseinander?“, fragte er. Das Internet soll den Ort nun wieder näher an den Rest der Welt rücken.