Die Deutsche Bahn hat die neue Strecke zwischen Wendlingen und Ulm in Betrieb genommen. Die größte Freude herrscht aber in einigen Gemeinden auf der Alb. Vom gleichzeitig entstandenen Regionalbahnhof in Merklingen versprechen sich die Anrainergemeinden eine ganze Menge.
Auch ein langgedienter Ministerpräsident ist nicht davor gefeit, Neues zu lernen. Für Winfried Kretschmann waren es am Freitag gleich zwei Erkenntnisse, eine aus dem technischen Bereich und die andere eher auf musischem Gebiet: „Dass zwei Züge nebeneinander in dieselbe Richtung fahren können, war mir neu.“ So geschehen zwischen dem neuen Bahnhof in Merklingen und Ulm, wohin Kretschmann mit einem Sonder-ICE von Stuttgart aus anreiste, der ab Merklingen von einem Regionalzug parallel begleitet wurde. Diese Übung hat die Bahn zur Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke zwischen Wendlingen und Ulm gezeigt.
In der Donaustadt angekommen, sang ein Kinderchor dem Landesvater und den gut 200 geladenen Gästen ein Ständchen. Thematisch passend, waren es die Takte von der „Schwäbsche Eisenbahn“. Das, so Kretschmann, habe er noch nie mehrstimmig gehört. Aber es sei doch bezeichnend, dass die „heimliche Hymne Schwabens“ die Eisenbahn zum Inhalt habe. Sein bahnaffiner Verkehrsminister Winfried Hermann wird’s zufrieden vernommen haben.
Projektgegner demonstrieren am Bahnhof in Ulm
Harmonisch wie die Kinderstimmen sollte es auch drunten in der frostig temperierten Bahnhofspassage von Ulm weitergehen. Alle Redner von Bahn-Chef Richard Lutz über Kretschmann bis hin zu Verkehrsstaatssekretär Michael Theurer und Ulms OB Gunter Czisch lobten das Vier-Milliarden-Werk, das die Fahrzeit zwischen Ulm und Stuttgart um eine Viertelstunde reduziert, die beiden Städte einander näher bringt.
Auch der Regionalbahnhof Merklingen, in den ursprünglichen Planungen nicht vorgesehen, wurde allenthalben gelobt. Droben auf dem Bahnsteig bei der Ankunft hatten aber nicht alle in die Lobeshymnen einstimmen wollen. Ein kleines Grüppchen von Demonstranten machte seinem Unmut über das Projekt Luft und warnte vor den von ihnen identifizierten Brandschutz-Defiziten.
Bürgermeister in Feierstimmung
Für ebenjenes Merklingen und weitere Gemeinden auf der Alb ist die Eröffnung der neuen Strecke ein ganz eigener Feiertag. „Wir haben die Vision zur Realität gemacht“, sagt Bernd Schäfer, Bürgermeister des 1000-Einwohner-Dorfes Mühlhausen im Täle, der mit einer Gruppe örtlicher Bürgermeister auf den Sonderzug nach Ulm wartet. Sie repräsentieren die „glorreichen acht“, die Kommunen, welche die verrückte Vision eines neuen Bahnhofes an einer schon fertig geplanten ICE-Strecke auf der Alb von Anfang an vorangetrieben haben. Wie es sich für die Schwäbische Alb im Winter gehört, ist es auf dem schneebepuderten Bahnsteig eiskalt. Doch allen hier scheint der Anblick des Zuges nach einem zehnjährigen politischen Ritt das Herz zu wärmen.
Dabei wirkt die neue Station unspektakulär. Ein tiefer Einschnitt auf der Albhochfläche, zwei Gleise mit Bahnsteig rechts und links der Strecke, zwei einsame Gebäude mit ein bisschen rustikaler Holzverkleidung. Fast das Wichtigste am Gelände sind die 430 Parkplätze, die genauso die Pendler aus den ringsum verstreuten Albgemeinden einsammeln sollen wie das künftig auf die Bahn abgestimmte Busliniennetz.
Viel Geld von den Kommunen
Ganz so strukturschwach ist man hier nicht. Anders hätten sich die zwölf Gemeinden von Bad Ditzenbach bis Wiesensteig aus dem eigens gegründeten Zweckverband, die immerhin 13 Millionen Euro in den Topf für die neue Station geworfen haben, in dieser Form gar nicht beteiligen können. 24 Minuten gibt Google von Merklingen für die Autofahrt nach Ulm an. Mit dem neuen Zug sind es künftig zwölf Minuten. In die Stuttgarter Stadtmitte ist es mit 56 Minuten Fahrzeit und einmal umsteigen in Wendlingen noch nicht ganz so attraktiv. Ohne Stau ist das Auto etwa gleich schnell. Doch mit der Eröffnung des neuen Stuttgarter Bahnhofs wird sich die Fahrzeit halbieren.
Für Klaus Kaufmann, Bürgermeister von Laichingen und Vorsitzender des Zweckverbands, ist die Eröffnung das Happy End eines gewaltigen Sprungs ins Risiko. Der neue Bahnhof war für die Alb-Gemeinden ein Kraftakt. Ohne deren Beitrag zu den 53 Millionen Euro Gesamtkosten wäre der Bahnhof nie Wirklichkeit geworden. An jeder Weggabelung forderte es schnelle, risikoträchtige Entscheidungen. Kaufmann erinnert sich noch gut, wie er Winfried Hermann am Rande eines Tunnelanstichs für die Strecke im Sommer 2013 überfallartig angesprochen habe. „Der war noch gar nicht richtig aus dem Dienstwagen ausgestiegen, da fragte ich ihn gleich nach einem Termin für ein Gespräch darüber, ob hier nicht doch ein Bahnhof möglich wäre.“ Es war eine Idee, die zwar laut Planfeststellungsverfahren theoretisch möglich war, aber die niemand beherzt angepackt hatte. „Aber ich habe gleich gedacht, in den Augen des Ministers ein gewisses Glitzern gesehen zu haben.“
Wenige Minuten Bedenkzeit
Die Grundsatzentscheidung, für den Bahnhof viel Geld in die Hand zu nehmen, so erinnert sich der Bürgermeister, sei binnen weniger Minuten im Vorzimmer des Landesverkehrsministers gefallen, als der signalisierte, dass das Land sich beteiligen würde – wenn denn die Kommunen die Sache mitfinanzieren.
Der Lohn an diesem 9. Dezember? „Jetzt machen wir miteinander ein richtig geiles Fest“, ruft Kaufmann ins voll besetzte Feierzelt. Dazu gibt es eine preisende Rede vom Landesvater persönlich. „Ha no, chapeau: Da habt ihr etwas hingekriegt!“, sagt Winfried Kretschmann: „Koi Firlefanz – aber dafür Substanz.“ Und für Winfried Hermann fasst ein Satz alles zusammen: „Das hier ist Vorbild für Deutschland!“
Gerlinde Kretschmann übernimmt Tunnel-Patenschaft
Auch Matthias Lieb, Landesvorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), glaubt an den Erfolg des Regionalhalts. „So entstehen Pendlerentfernungen auf der Schiene, die früher keine waren.“ Dass aber zeitgleich zum Bau der neuen Strecke die parallel verlaufende A 8 auf sechs Fahrspuren erweitert wurde, hält er für eine sinnlose „Doppelinvestition“. Der VCD habe sich deshalb im Beteiligungsverfahren zum weiteren Ausbau der A 8 im Bereich des Drackensteiner Hangs für eine reduzierte Variante starkgemacht. „Wenn die prognostizierten Verlagerungseffekte auf die Schiene bei Personen und Gütern eintreten, dann reichen dort auch vier Fahrspuren.“
In Ulm wollen sie aber lieber über den Bahn- als über den Autoverkehr sprechen. Winfried Kretschmanns Ehefrau Gerlinde hatte für den langen, nach Ulm führenden Tunnel die Patenschaft übernommen. Ob sie sich nochmals ein solches Amt wünsche, fragt die Moderatorin. Gerlinde Kretschmann kontert schlagfertig: „Ja, wo denn? Wir haben ja kein Matterhorn, durch das wir uns buddla könna.“ Vielleicht besser so: Der Bau der langen Tunnel auf der Strecke, die von Sonntag an jedem offensteht, war langwierig genug.
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