User im Netz sollen kenntlich werden, fordern Politiker. Sie unterschätzen den Verwandlungstrieb und den Hang zum Identitätsdiebstahl.

Stuttgart - Für Politiker mit ausgeprägtem Risikovermeidungsdenken und daraus erwachsendem Kontrollzwang ist alles klar und folgerichtig: es muss ein Vermummungsverbot im Internet geben. Wer unter einem Kunstnamen bloggt, wer als selbst erfundenes virtuelles Wesen durch soziale Netzwerke geistern und sich anonym an Forendiskussionen beteiligen darf, der entzieht sich jeder Verantwortung.

 

Der kann ungestraft zu Straftaten aufrufen, illegale Banden organisieren und das Gemeinwesen schädigen. Der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und jene seiner Parlaments- und Amtsträgerkollegen, die das Internet nur als eine Art Bürgerzentrum ohne lästige Heizkosten zu Lasten kommunaler Kassen begreifen, träumen davon, jedes Wort im Netz werde einmal an eine für die Polizei anfahrbare Wohnadresse geknüpft sein.

Unterstützung findet die Politik darin bei den Betreibern großer sozialer Netzwerke. Auch Facebook und Google dringen darauf, dass ihre Nutzer bitte schön nicht als Kunstwesen, gar als sich dauernd an-und abmeldende und dabei komplett die Identität wechselnde Erlebnisschizophrene unterwegs sind. Die Netzwerke leben davon, dass die Daten ihrer Nutzer sich zu scharfrandigen Profilen zusammensetzen, mit denen die werbende Industrie auch etwas anfangen kann.

Mit ein paar Mausklicks zum anderen "Ich"

Die will wissen, ob sie jemandem Katzen- oder Hundefutter anbieten, Trekkingtouren durch die Mongolei oder Kneippurlaub im Harz anpreisen, eine Bierkneipe in Düsseldorf oder eine Weinstube in Hohenlohe empfehlen soll.

Was Politiker und Datensammler dabei übersehen, das ist die lange Kulturgeschichte der Selbsterfindung. Täuschen, Tricksen, Lügen und Hochstapeln gehören nicht bloß ins Arsenal mehr oder weniger finsterer Gestalten auf der Fahndungsliste. Sie sind, angefangen beim Sozialverhalten der Menschenaffen, Teil der alltäglichen Kommunikation.

Nicht etwa nur, um anderen zu schaden, werden Fiktionen eingesetzt, sondern auch, um erholsamerweise herauszukommen aus dem eigenen Alltag. Ein anderes "Ich" kann man sich nicht erst zulegen, seit man mit ein paar Mausklicks einen schrillen Avatar hochladen kann.

Pseudonyme in der Literatur

Karl May (1842 bis 1912) besaß noch keinen Computer, als er sich als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi neu erfand und so detailversessen wie erfolgreich von seinen Reisen durch den Wilden Westen und einen gefahrenreichen Orient berichtete, die er in der Realität nur mit dem Finger auf der Landkarte erkundet hatte.

Die einen Leser mögen "Winnetou" und "Durchs wilde Kurdistan" gutgläubiger, die anderen skeptischer verschlungen haben. Der Autor selbst aber, übrigens ein mehrfach vorbestrafter Dieb, Betrüger und Hochstapler, hat sich mit seinen Büchern nicht nur ein Einkommen verschafft. Er hat sich selbst therapiert. Er war sein eigener bester Kunde und Lieferant zugleich, er hat einen Karl May gebaut, der frei war von den eigenen biografischen Fehltritten. Kein Bloggerstar von heute kann Egostyling perfekter hinbekommen.

Was zu Mays Zeiten und davor eher das Privileg der Autoren war - die Vielgestaltigkeit der Person, die Grenzauflösung, das Verschwimmen des Charakters - griff in der literarischen Moderne auf die Figuren über. Die Frage nach der Identität führt Romangestalten und Leser in den tiefsten Irrgarten, wie in einem modernen Klassiker von Max Frisch mit dem suggestiven Titel "Mein Name sei Gantenbein" (1964). Der wimmelt von Satzfolgen wie dieser: "Einmal klingelt's tatsächlich. Ich mache nicht auf - Der Herr meines Namens ist verreist."

Die Verwandlung ist ein starker Trieb

Dass das schreibende Ich eine Erfindung ist, dass Worte nie ein direkter, authentischer, ungekünstelter Wachsabdruck einer Autorenseele sind, ist eine Prämisse jeder kritischen oder gar wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur, vielen Lesern als Konzept aber lange fremd geblieben. Im Internet - das mehrheitlich immer noch ein Schreib- und Lesemedium ist, trotz der vielen Töne, Bilder und Filme dort - machen Nutzer nun aber massenhaft und lustvoll die Erfahrung des folgenlosen Rollenspiels, der Abspaltung möglicher Ichs, der dauernden Häutung, der steten Neuanfänge oder der fortgesetzten Pflege eines alternativen Charakters.

Diese Selbsterfahrung ist mal lustvoll, mal peinlich, mal befreiend, mal frustrierend. Aber sie wird, wenn nicht von der Mehrheit, so doch von einer signifikanten Minderheit der im Internet Aktiven umso mehr als Grundrecht empfunden, wie Staat und Netzwerke zur Eindeutigkeit, zur Identifizierbarkeit, zur Deckungsgleichheit der Personen vor und auf dem Bildschirm drängen. Die Verwandlung ist ein starker kreativer Trieb, umso stärker wohl, je mehr die reale Welt mit Zwängen, Festlegungen und Verortungen arbeitet.

Der Identitätsdiebstahl als neue Kriminalitätsform

Auch ein auf ein wenige europäische Nationen beschränktes Klarnamensgebot fürs Internet - um die Problematik der Identifizierbarkeit in Diktaturen einmal ganz beiseite zu lassen - würde also am kreativen und subversiven Widerstand der Nutzer scheitern. Denn Sinn macht das Gebot nur, wenn seine Einhaltung halbwegs gewährleistet ist. Nicht, wenn Hackergruppen auf ausländischen Servern jedem Vermummungswilligen einmal Tarnkappen anbieten werden.

Keinen Sinn ergeben Friedrichs Visionen aber auch darum, weil die Mittel zu mehr Kenntlichwerdung nur bessere Tarnmöglichkeiten für wirklich Kriminelle schaffen. So, wie die Geldkarte mit PIN nicht den Diebstahl abgeschafft hat, sondern neue Möglichkeiten der Kontoplünderung schuf, haben die diversen Identifizierungsmerkmale des modernen Menschen eine neue Kriminalitätsform erst richtig lukrativ gemacht: den Identitätsdiebstahl. Je mehr Eindeutigkeit die Politik verlangt, desto sicherer werden sich jene bewegen, die ein eindeutig harmloses Profil gekapert haben. Wir meinen dann ja alle, Nutzer wie Staat, zu wissen, wen wir vor uns haben.

Hintergrund: Der Innenminister bleibt bei seiner Kritik am Internet

These Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat seine Kritik an der Anonymität im Internet bekräftigt. Es müsse gelingen, die geltende Rechtsordnung auch auf die digitale und virtuelle Welt zu übertragen, sagte Friedrich am Rande eines Termins in Potsdam. Erst vor kurzem hatte Friedrich vor dem Hintergrund der Anschläge in Norwegen in einem Interview die Anonymität radikaler Blogger im Internet kritisiert und dafür teilweise heftige Kritik einstecken müssen. Ihm wurde vorgeworfen, die Meinungsfreiheit im Internet aufs Spiel zu setzen.

Kritik "Die schon etwas dümmlichen Reaktionen haben mich enttäuscht", bemerkte der Minister dazu. Hier nur darauf zu verweisen, dass im Internet alles international und deshalb nicht zu regeln sei, reiche nicht aus. Vielmehr sei eine Struktur nötig und mit Blick auf die großen sozialen Netzwerke zu fragen: "Was verlangen wir von Google, von Facebook?" Leserbriefschreiber würden auch beim Namen genannt, wenn sie Tatsachen über andere behaupteten. Friedrich warnte davor, das Netz "ins Chaos der Gesetzlosigkeit" versinken zu lassen.