Der Abgasskandal bei Volkswagen wird auch den Gewerkschaftstag der IG Metall überschatten, der am Sonntag in Frankfurt beginnt. Groß ist die Sorge vor einer Notlage der Autoindustrie. Auch von der Gewerkschaft hängt die Bewältigung der Krise ab.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Das werde der „langweiligste Gewerkschaftstag in der Geschichte der IG Metall“, lästerte kürzlich der Funktionär eines Stuttgarter Vorzeigeunternehmens. Hatte die IG-Metall-Führung die Debatten auf dem Bundeskongress nicht so sorgfältig wie nie zuvor vorbereitet? Sind nicht die Personalentscheidungen, die auch eine Frau ganz nach oben bringen, mit jahrelangem Vorlauf auf den Weg gebracht worden? Keine sechs Wochen ist das her. Doch die Autoindustrie hat sich im Zeichen von Dieselgate verändert – und damit auch die Welt der IG Metall.

 

Nach Bekanntwerden des Skandals brauchte die Gewerkschaftsführung ein paar Tage, um sich zu sortieren. Der designierte Vorsitzende Jörg Hofmann forderte im StZ-Interview einen „Kulturwandel bei VW“. Der Noch-Vorsitzende Detlef Wetzel schloss sich kurz darauf an. Im kleinen Kreis von Journalisten vermied er aber eindeutige Schuldzuweisungen, sondern sagte nur: „Es war sicher nicht die Putzfrau, die das verantwortet hat.“ Folglich gelte das Motto: „Wir zahlen nicht für eure Krise.“

Die IG Metall suchte nach der richtigen Linie zwischen Besonnenheit und Attacke. Mittlerweile hat sie ihre Vorsicht abgelegt: „Unsere Anforderung ist, dass es im VW-Konzern ein massives Aufräumen geben muss“, sagte Baden-Württembergs Bezirksleiter Roman Zitzelsberger der Stuttgarter Zeitung. „Es muss eine Kultur im Unternehmen geben, wonach so etwas künftig nicht mehr passieren kann – die Menschen müssen sich trauen, auf Missstände hinzuweisen.“ Auch solle sichergestellt werden, dass die Vorgaben zur Compliance (Regel- und Gesetzestreue) eingehalten werden. Kurzum: „Wir werden unsere Stärke im VW-Konzern mit Sicherheit dazu nutzen, dass so etwas nicht mehr vorkommen kann.“

Bis zuletzt an Winterkorn festgehalten

Nun weisen nicht wenige darauf hin, dass die IG Metall ihre Stärke bei VW schon vorher hätte nutzen sollen, mehr Offenheit und Transparenz im Konzern zu erwirken. Allzu enge Verbindungen des Betriebsrats zum Vorstand verhinderten diese eher. Noch nachdem der Betrug für alle sichtbar aufgeflogen war, wollte der mächtige Betriebsratschef Bernd Osterloh an dem allseits geachteten Vorstandschef Martin Winterkorn bis zuletzt partout festhalten. Nur „unter dem Druck der Verhältnisse“ sei er umgeschwenkt, heißt es. Demnach gab es bei VW viel zu lange eine Binnensicht, in der man die Vorwürfe und ihre Folgen für beherrschbar hielt. Erst allmählich sei begriffen worden, was da passiert.

Um dies zu verstehen, muss man tief hineinhören in den kleinen Kreis der Menschen, die mit der Aufarbeitung vertraut sind. Die Frage zum Beispiel, warum die VW-Führung nach der Aufdeckung der Manipulation durch die US-Umweltbehörde Mitte 2014 gut ein Jahr mehr oder weniger wirkungslos hat vorbeiziehen lassen und warum nur beschönigt statt reagiert wurde, hängt eng mit dem Selbstverständnis der Technikexperten bei VW zusammen: „Die Techniker glauben, dass sie immer alles hinkriegen“, sagt einer. Auch in diesem Fall seien sie der Ansicht gewesen, dass es möglich ist. Das sei eine ganz spezielle Kaste – eine arrogante Gemeinschaft, der das Budget und der Vorstand eher gleichgültig seien. Die Beschuldigungen möge sie eher als Petitesse ansehen statt als Katastrophe. Eine solche „Hybris“ käme nun mal vor dem Fall.

Was hat Winterkorn gewusst?

Auch Winterkorn ist ein ausgewiesener Technikspezialist. Der gebürtige Leonberger hatte zwar vom Volkswagen-Patriarchen Ferdinand Piëch das autoritäre System übernommen, das beim Management die Angst schürte, über Fehler zu reden. Doch dass die Trickserei und Täuscherei ohne seine Kenntnis abgelaufen ist, wird intern heftig bezweifelt. Selbst wenn er den Betrug seinerzeit nicht selbst veranlasst hat, weil er erst im Januar 2007 zum VW-Chef aufgerückt ist, so war er etwa in der Lage, einschlägige Protokolle zu lesen und die Lage zu beurteilen. Wenigstens Mitwisser könnte er gewesen sein – auch weil der beurlaubte Entwicklungsvorstand Ulrich Hackenberg schon zu Audi-Zeiten sein Intimus war. Und dass dieser Mann ahnungslos war, fällt noch schwerer zu glauben.

Doch hatte nicht der frühere IG-Metall-Chef Berthold Huber, der bis zum 7. Oktober kommissarisch den Aufsichtsrat geleitet hat, bevor er von Hans Dieter Pötsch abgelöst wurde, sofort nach dem Winterkorn-Rücktritt eine Ehrenerklärung abgegeben? „Wir wollen eindeutig festhalten, dass Herr Winterkorn keine Kenntnis hatte von der Manipulation der Abgaswerte“, sagte Huber „mit größter Hochachtung“ am 23. September. War es ein Fehler, dem Geschassten so frühzeitig einen Freibrief auszustellen? Es könnte auch ein Schachzug gewesen sein, um im Aufsichtsrat eine Mehrheit für den Abgang des Konzernchefs zu organisieren, die sonst nicht möglich gewesen wäre – eine Strategie, die für Außenstehende kaum noch nachvollziehbar ist.

War auch der neue Aufsichtsratschef eingeweiht?

Glaubhaft sollte der Neuanfang werden. Denkbar ist Insidern zufolge jedoch, dass auch der frühere Finanzvorstand Pötsch frühzeitig in die Täuschungsaktion eingeweiht war. Dies könnte eine besonders bizarre Situation ergeben, denn Pötsch muss in seinem neuen Amt als Aufsichtsratschef die Aufklärung vorantreiben. Und wenn sich das Kontrollgremium von Rechtswegen genötigt sehen sollte, Schadenersatz von den verantwortlichen Vorständen einzufordern, um die Glaubwürdigkeitskrise von Volkswagen zu bewältigen, müsste Pötsch praktisch Ansprüche gegen sich selbst stellen. Kein Wunder, dass schon Vermutungen in Umlauf kommen, dass auch der Oberaufseher am Ende eines womöglich jahrelangen Aufklärungsprozesses auf der Strecke bleibt.

Die IG Metall kann sich wegen ihrer starken Stellung bei VW nicht wegducken. Dass manche Kritiker das ausgeprägte Co-Management in Wolfsburg mitverantwortlich machen für das Desaster, geht der Gewerkschaft zu weit. Erfolge allein Winterkorn gutzuschreiben und Misserfolge der Mitbestimmung anzulasten – bei dieser Arbeitsteilung mache er nicht mit, grollt Vize Hofmann. Zitzelsberger ergänzt: „Mitbestimmung findet grundsätzlich statt bei strategischen Grundsatzentscheidungen, bei personellen Besetzungen an der Spitze und auf der operativen Ebene in der Frage, wie die Produktion läuft.“ Mitbestimmung finde weniger statt auf der technologischen Ebene. Diese sei Sache des Managements. Eine Mitwisserschaft sei der IG Metall nicht vorzuhalten.

Zorn und ernsthafte Sorgen in den Belegschaften

Umso mehr muss sie sich mit den Folgen auseinandersetzen: Während der neue VW-Chef Matthias Müller für die eigene Marke schon massive Sparprogramme plant, könnten auch Zulieferer, die von VW besonders abhängig sind, hart getroffen werden. „Die Affäre wirkt sich je nach Betroffenheit auf die Stimmung der Beschäftigten aus“, skizziert Zitzelsberger die Atmosphäre. „Das geht von ernsthaften Sorgen bei den Bosch-Kollegen im Bereich der Dieseltechnologie über Wut, Zorn und Unverständnis in den Lieferketten von Volkswagen sowie anderer Automobilhersteller bis hin zum Kopfschütteln, wie man so etwas machen kann, bei denen, die gar nichts damit zu tun haben.“ Während es beim Arbeitgeberverband heißt, dass frühestens Ende Oktober mit ersten Erkenntnissen zu rechnen sei, beobachtet auch die IG Metall zunächst den Markt, bevor sie öffentlich mögliche Konsequenzen erörtert. Und sie bereitet sich auf alle Eventualitäten vor – speziell auf die Frage, was zu tun ist, wenn infolge eines starken Absatzeinbruchs bei VW der Bau von Dieselaggregaten stark reduziert werden muss. Um keine Panik bei den Beschäftigten zu schüren, werden derartige Diskussionen bisher nur hinter den Kulissen geführt.

Dennoch wird der künftige IG-Metall-Vorsitzende spätestens in seinem Zukunftsreferat am Mittwoch wohl etwas genauer werden müssen. Südwestmetall-Hauptgeschäftsführer Peer-Michael Dick mutmaßt bereits, dass Hofmann das Thema „Die nächste Krise kommt bestimmt“ darin „sehr strapazieren“ werde – was er aber nicht nur auf Dieselgate bezieht.

Plädoyer für die Dieseltechnologie

Nicht nur tarifpolitisch, auch auf der politischen Ebene ist die IG Metall gefordert. „Man muss sehr stark in zwei Richtungen agieren“, sagt Zitzelsberger. Erstens müsse die Gewerkschaft den Wert der Dieseltechnologie und ihren Nutzen im Umgang mit den Schadstoffemissionen deutlich machen. Bisher habe sie in Europa Anteile von 50 bis 60 Prozent. Sollten künftig verstärkt Benziner statt Dieselautos gekauft werden, sei das Ziel in Gefahr, bis 2020 bei Neuzulassungen den geforderten CO2-Grenzwert von 95 Gramm pro Kilometer einzuhalten. „Zweitens muss klar sein: Standardisierte Abgastests sind notwendig, aber leider viel zu weit von realen Emissionen entfernt.“ Es brauche eine „Ehrlichkeits-Offensive“ gegenüber den Kunden, mahnt der Bezirksleiter. Da seien primär die Hersteller und der Verband der Automobilindustrie (VDA) gefragt. „Wir werden das positiv unterstützen.“ Zudem will man sich derjenigen erwehren, „die sich populistisch und mit abstrusen Vorschlägen zu Heilsbringern aufschwingen“. Angesprochen fühlen darf sich etwa Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), dessen Idee landeseigener Abgastests aber schon wieder erledigt ist.

So wird in der nächsten Woche das Gespenst des Absturzes durch die Frankfurter Messehallen geistern, selbst wenn Zitzelsberger abwiegelt: Die Abgasaffäre „wird mit Sicherheit auf den Fluren eine Rolle spielen und in einigen politischen Aussagen des Grundsatzreferats“, sagt er. „Ansonsten wollen wir uns nicht die ganze Zeit mit tagesaktuellen Themen beschäftigen, sondern die Zukunftsfragen bearbeiten.“ Da gebe es eine ganze Latte an Themen allein im tarifpolitischen Bereich. Freilich dürfte die Zukunft der Autoindustrie auch von den Folgen des VW-Skandals abhängen.