Jahrzehntelang hat die Mafia verseuchten Müll in Böden zwischen Neapel und Caserta entsorgt. Die Folge: verpestete Luft, vergiftetes Gemüse, höhere Krebsraten. Jetzt reicht es den Bürgern.

Neapel - Mal sind es 20 000 Demonstranten, mal 4000. Am Samstag sollen es mindestens 50 000 werden: In immer neuen Protestzügen lehnen sich die Menschen nördlich von Neapel auf gegen Hunderttausende von Tonnen von wild deponiertem Giftmüll, der Land und Brunnen verseucht. Gegen die tagtäglichen, meist vorsätzlich gelegten Brände in legalen und illegalen Abfalldepots, die Luft und Lungen mit Dioxin verpesten. Gegen die Politik, die dem Treiben der Camorra und der industriellen Müllprofiteure 25 Jahre lang tatenlos zugesehen habe. Und gegen den Krebs, der hier laut Studien entschieden häufiger zuschlägt als anderswo. „Wir sind es müde, so viele Kinder auf den Friedhof zu tragen“ – diesen Satz hat Maurizio Patriciello, Pfarrer und Protestführer im „Feuerland“ zwischen Neapel und Caserta, neulich der Umweltministerin entgegengeschleudert. Sie wusste nicht viel zu entgegnen.

 

Den Stein ins Rollen gebracht hat ein früher führender Mafioso. Carmine Schiavone aus dem Clan der Casalesi – geoutet und berühmt geworden durch Roberto Savianos Buch „Gomorrha“ – legte im August eine ausführliche Fernsehbeichte ab. Er berichtete, wie sein „System“ so vielen norditalienischen Unternehmen geholfen hat, ihren Sonder- und Giftmüll kostensparend zu entsorgen. Er erzählte von Sandgruben an den Stränden, von Fischteichen und Steinbrüchen im Hinterland, in denen nächtens ganze Lastwagenkolonnen ihr undeklariertes Zeug abladen durften, geleitet durch „eine geradezu militärische Organisation von Camorristi in gefälschten Polizeiuniformen“. Auch „radioaktiven Schlamm aus Deutschland“ habe man verschwinden lassen. „Wir wussten durchaus, dass in 20 Jahren hier alle an Krebs sterben würden“, sagt Schiavone.

Bekannt ist die Praxis seit langem, gehandelt wird erst jetzt

Dass die Sache lukrativ war für die Casalesi, wegen fehlendem Fahndungsdruck und mangelnden Sanktionen auch noch entschieden risikoärmer als der Drogenhandel, das wussten die Staatsanwälte lange vor Schiavone. Bekannt war auch, dass Mülltransporte dieser Art und Dauer nicht ohne Wissen von Kommunalpolitikern abgewickelt werden konnten und dass so manche Bauern unter ihren Feldern – gegen gutes Geld – Depots anlegen ließen. Doch erst jetzt wird nachgeschaut. Erst jetzt hat das Parlament das 60-seitige Protokoll einer geheimen Anhörung freigegeben, in der Schiavone schon 1997 das Müllgeschäft in unzähligen Facetten beschrieben hat. Erst heute kommen verrostende Fässer tatsächlich ans Licht. Heute rückt der Schrecken den 300 000 Einwohnern „Feuerlands“ direkt auf den Leib. Von einem „Tschernobyl“ sprechen die einen, die anderen von „Aids“ oder „Pest“. Aber es ist nicht nur die Angst um die Gesundheit.

In Kampanien, der drittgrößten Agrarregion Italiens, erzeugt die Landwirtschaft bei einem Jahresumsatz von drei Milliarden Euro an die 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 136 000 Firmen und 65 000 Jobs hängen an ihr. Anders als der Rest der regionalen Ökonomie boomt die Branche. 2012 hat sie ihre Arbeitsplätze um ein Zehntel ausgeweitet. Und jetzt? Nach den Giftmüllberichten haben der nationale und der exportorientierte Großhandel die Nachfrage nach kampanischem Obst und Gemüse um ein Drittel zurückgefahren. Das berichtet die Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“. Und Promos, ein von Handelskammern, Unis und Provinzen getragenes Forschungsinstitut, urteilt lapidar: „Der Großhandel hat ein Veto gegen kampanische Produkte ausgesprochen. Er hat kapiert, was bei uns los ist: das Chaos. Es gibt keine Kontrollen. Woher die Produkte kommen, lässt sich nicht zurückverfolgen. Es gibt keine Sicherheit für die Kunden. Man vertraut uns nicht. Ein Drama.“

Tomaten, Brokkoli, Salat – wie gut wird kontrolliert?

Von wegen, sagen sie in der Regionalregierung: Tomaten, Brokkoli, Fenchel, Kartoffeln, Salat, Pfirsiche – alles sei „superkontrolliert“. So versichert es der Ministerpräsident Stefano Caldoro: „Wir haben die besten Erzeugnisse Italiens, die beeindruckendsten Landschaften, das schönste Meer.“ Die verseuchten Äcker, das seien nicht einmal fünf Prozent der gesamten Anbaufläche: „Also Hände weg von unserem schönen Kampanien!“ Doch selbst Caldoros Landwirtschaftsassessorin, Daniela Nugnes, muss zugeben, dass die Ergebnisse der Lebensmittelanalysen „in der Schublade geblieben“ sind. Kampanien, so vermeldet das nationale Gesundheitsministerium, habe als einzige Region Italiens die Untersuchungen zu problematischen Rückständen in Lebensmitteln nicht nach Rom gemeldet: „Sie haben gesagt, das liege an Computerproblemen.“

Doch was soll jetzt getan werden? Das weiß niemand so genau. Die Böden sanieren würde viele Jahrzehnte dauern. Der Antimafia-Staatsanwalt, Franco Roberti, und der Chefredakteur der neapolitanischen Zeitung „Corriere del Mezzogiorno“, Marco Demarco, befürchten vor allem eines: dass nun auch die Millionen, die Rom für die Sanierung womöglich nach Neapel überweist, in den Händen der Camorra landen. Und dass das Gelände dann sauber würde, das sei noch lange nicht garantiert.