Der belgische Regisseur Lukas Dhont, 31, gilt als große Hoffnung des europäischen Kinos. Am Donnerstag kommt sein feinsinniges Drama „Close“ in die Kinos. Im Interview spricht er über Männlichkeitsbilder und Trennungsschmerz.
Lukas Dhonts Filme sind beide in Cannes ausgezeichnet worden, beide wurden als belgische Beiträge für die Oscars ausgewählt. „Close“ steht nun in der Endrunde. Er erzählt darin, wie eine Jungenfreundschaft zerbricht – und warum.
Herr Dhont, im Alter von 27 Jahren ist Ihnen mit Ihrem Debütfilm „Girl“ in Cannes der Durchbruch gelungen. Wie haben Sie das verarbeitet?
Mit „Girl“ war ich eineinhalb Jahre auf der ganzen Welt unterwegs. Dann saß ich vor dem sprichwörtlichen leeren Blatt Papier und wusste nicht, was als nächstes kommen soll. Mir wurden Drehbücher angeboten, aber ich wollte noch einmal eine Geschichte mit so viel Leidenschaft erzählen – und das geht nur, wenn sie tief aus meinem Innersten kommt. Auf der Suche nach Inspiration bin ich in mein Heimatstädtchen zurückgekehrt, und aus einer Intuition heraus habe ich meiner alten Schule einen Besuch abgestattet. Ich hatte das Gefühl, an eine Zeit anzuknüpfen, in der es in meinem Leben noch nicht um so pompöse Dinge ging wie das Filmbusiness.
Sie erzählen von zwei 13-Jährigen und vom Umgang mit Trauer.
Mir ging es in erster Linie darum, von Freundschaft zu erzählen. Vielleicht hatte es auch mit der Pandemie zu tun, dass ich viel darüber nachdachte, wie wichtig für uns der Bezug und die Nähe zu anderen Menschen sind. In meiner Jugend habe ich das nicht immer unbedingt so erlebt. Da war ich oft einsam, nicht zuletzt, weil ich mich weder bei den Mädchen noch in den Jungscliquen wirklich zugehörig fühlte. Und wenn mir jemand näherkommen wollte, habe ich mich meist zurückgezogen, weil ich mir über vieles nicht im Klaren war. Aber mir ging es gar nicht unbedingt um meine eigene Erfahrungen. Viel entscheidender war eine Studie der US-Psychologin Niobe Way.
Worum ging es da?
Sie hat 100 Jungs im Alter von 13, 15 und 18 Jahren die gleichen Fragen gestellt. Wenn die 13-jährigen über Freundschaften sprachen, klang das oft wie Liebesgeschichten, voller Intimität und Nähe, bei der ganz viele Geheimnisse und Gefühle miteinander geteilt wurden. Je älter sie wurden, desto mehr Distanz konnte man herauslesen, mehr emotionale Beherrschung und Abstand, eine Entwicklung hin zur Unabhängigkeit. Mich hat das sehr bewegt, weil sich daran so erkennbar ablesen lässt, was unsere Gesellschaft in Sachen Männlichkeit erwartet, wenn es um Nähe und Gefühle geht. Ich habe mich als Jugendlichen darin durchaus wiedererkannt und war erstaunt, wie universell viele meiner Erfahrungen zu sein scheinen.
Sie fangen nun in „Close“ noch diese frühe, zärtliche Phase einer Jungsfreundschaft ein …
Ja, das war mir wichtig. Wenn wir an Maskulinität denken, kommen uns Bilder von Sport und vom Kämpfen in den Sinn, da wollte ich gegenhalten mit solchen von der Nähe zweier Freunde, die zusammen auf einem Bett liegen. Aber dann setzt eben diese von Way beschriebe Distanzierung ein. Und der unglaubliche Trennungsschmerz, den das Ende einer Freundschaft bedeuten kann. Bei einem gebrochenen Herzen denken wir meistens an romantische Beziehungen. Aber eine Freundschaft kann mindestens genauso schmerzhaft zu Ende gehen.
Ist „Close“ ein queerer Film?
Das Schöne an einem Film ist ja, dass ihn jeder interpretieren kann, wie er oder sie möchte. Ich setze da etwas in die Welt, für das ich größte Leidenschaft empfinde und das mir unglaublich viel bedeutet. Aber sobald ich den Film zum ersten Mal zeige, gehört er nicht mehr mir, sondern dem Publikum. Und das hat seinen eigenen Blick, gegen den ich nie etwas einwenden würde. Alle Themen des Films – von Freundschaft und Maskulinität bis hin zu Trauer, Gruppenzwang und dem Gefühl, nicht dazuzugehören – lassen sich aus heterosexueller Perspektive genauso lesen wie aus queerer.
Es kommen auch Homophobieerfahrungen vor!
Stimmt, aber auch die können ja von heterosexuellen Menschen gemacht werden. Gerade auch in dem Alter. Überhaupt ist es mit Homophobie genauso wie mit Misogynie oder Transphobie – ihre Auswirkungen betreffen die ganze Gesellschaft. Das hat nicht nur etwas mit Queerness zu tun. Zugleich habe ich als queere Person diesen Film gedreht. Aber wie gesagt: Ich suchte nach dem Punkt, an dem meine eigenen Erfahrungen zu etwas Universellem werden. Also lassen sich in „Close“ beide Seiten finden.
Ein Film wie dieser steht und fällt natürlich mit der Besetzung der jugendlichen Rollen. Wie haben Sie Eden Dambrine und Gustav de Waele gefunden?
Da es um eine Freundschaft geht, musste natürlich die Chemie zwischen den beiden stimmen. Manchmal hat man einfach Glück, so wie in diesem Fall bei Eden. Ich hatte gerade erst angefangen, das Drehbuch zu schreiben, als ich auf einer Zugfahrt diesen faszinierenden jungen Menschen mit seinen Freunden beobachtete. Ich sprach ihn einfach an und sagte: Noch bin ich leider nicht so weit, aber wenn du in einem Jahr mal Lust hast, zu einem Casting zu kommen, würde mich das extrem freuen.
Und er kam tatsächlich?
Oh ja, zum Glück. Ich hatte keine Lust auf ein klassisches Vorsprechen, wo einer nach dem anderen ein paar Szenen spielen muss. Stattdessen verbrachten wir ein paar Tage mit allen Jungs, die uns interessierten, und ließen sie sich ausprobieren. So konnten wir sie im Umgang miteinander beobachten, und gerade wie jemand sich in einer Gruppe verhält, sagt ja sehr viel über ihn aus. Gustave und Eden waren vom ersten Tag an irgendwie zueinander hingezogen, wie zwei Magnete. Die besagte Chemie, die ich unbedingt brauchte, war da tatsächlich nicht zu übersehen.
Regisseur und Autor
Leben
1991 im belgischen Gent geboren, assistiert er Teenager Kostümbildnerinnen bei Film und Fernsehen. Er studiert Film an der Genter Royal Academy of Fine Arts.
Karriere
Mit dem Spielfilm „Girl“ (2018) über eine junge Transballerina gewinnt er beim Festival in Cannes die Caméra d’Or für das beste Debüt sowie die Queer-Palme. Sein Zweitling „Close“ wird in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und ist 2023 für einen Oscar nominiert.