Tippen und Drehen – vor und mit Johannes Ittens „Der Bachsänger (Helge Lindberg)“ in einer „Vom Werk zum Display“-Episode Foto: /VG Bild Kunst, Bonn 2024 für Johannes Itten
Im bunten Digital-Sandkasten des Kunstmuseums Stuttgart und der Kunsthalle Mannheim wartet Selbermach-Vergnügen: Was aber taugt das Projekt „Vom Werk zum Display“? Wir haben das Angebot getestet.
Michael Werner
22.01.2025 - 14:28 Uhr
Ob Otto Dix‘ bunter Endzwanziger-Aufeinanderprall „Großstadt“ mit lautem Ton zu orangesatten Farben nicht ins Unerträgliche driftet? Womöglich schon, denkt man, sobald man per Mausklick gehässiges Gelächter aktiviert, das dem verstümmelten Bettler am Straßenrand gelten mag. Glücklicherweise schmeicheln bald darauf Blechbläser dem Ohr und legitimieren das überkandidelte Geschiebe auf dem Tanzparkett mit dem Überschwang des Jazz. Wenn man jetzt, wie vorgeschlagen, auch noch einen „Avatar wählt“, den Kriegsveteran zum Beispiel, vernimmt man zunächst nur mattes Gemurmel. Aber instinktives Draggen und Droppen vermag, dem Schwerstversehrten jene Schonungslosigkeit zu entlocken, mit der Dix seine brutalen Momentaufnahmen der Weimarer Republik zu möblieren pflegte: „Überlebt habe ich – wofür? Um in dieser Gosse durch ein Rinnsal aus Regen, Blut und Urin zu humpeln?“
Too much? Sobald man auf „Avatar wechseln“ klickt und das tanzende Paar verschiebt, öffnet sich eine sonnigere Perspektive auf die Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg: Ein Otto Dix selbst ähnelnder Künstler animiert seine Partnerin, besonders schmissig mit ihm zu tanzen, denn von ihren Bewegungen erhofft er sich die Fördergunst des Saxofon spielenden und ein wenig einschleimend in die Szene gemalten Politikers Robert Alfred Schulze. Wie schön.
Künstliche Intelligenz für Willi Baumeister
Am Schönsten freilich wirkt im augenzwinkernd „Vom Werk zum Display“ betitelten digitalen Kunstvermittlungs-Projekt des Kunstmuseums Stuttgart und der Kunsthalle Mannheim der Umstand, dass sich die freudige Interaktion nicht auf die Disziplinen Toneinschalten und Avatarversetzen beschränkt: Bei der Annäherung an Willi Baumeister beispielsweise darf mal selber zeichnen, also Pixel schwärzen, auf dass künstliche Intelligenz sich an ein Werk des Stuttgarter Künstlers erinnere. Das funktioniert aber nur halbgut: Unabhängig davon, ob man ein schiefes Haus oder abstrakte Wellen kritzelt, erscheint im Nebenfenster auf dem Bildschirm entweder eine erschöpfte Tänzerin oder gar nichts. In gewisser Weise ernüchternd wirkt es auch, wenn man versucht, das von den Programmierern des Kunstmuseums in seine Einzelteile zerlegte Werk der Malerin Mona Ardeleanu per Computermaus wieder zusammenzusetzen: Stilisierte Thorax-Röntgenaufnahme, Haarteil und Korbwerk ergeben eben nicht unbedingt Kunst, sondern bleiben womöglich ein sinnloses Sammelsurium, selbst wenn man die Zutaten mit dem Zeigefinger engagiert platziert, dreht und vergrößert.
Umso verblüffender die der Didaktik des Kunstmuseums womöglich zuwiderlaufende aber gerade deshalb umso erfrischendere Erkenntnis, dass sich mit beherzter Farbzerstörung recht dekorative Ergebnisse erzielen lassen: Die Farbtheorie des Bauhaus-Künstlers Johannes Itten lasse sich anhand dessen Gemälde „Der Bachsänger“ verstehen, heißt es auf der „Vom Werk zum Display“-Website, hoch wirksam sei insbesondere der Komplementärkontrast. Tunkt man den virtuellen Pinsel also engagiert in die Online-Palette, mutiert die behütet gemalte Gestalt vor dem Globus womöglich zum Trauerklos. Grün ist schön, denken wir – und färben. „Fehlt eine der Kontrastfarben, wirkt das Bild fast eintönig“, warnt daraufhin das Kunstmuseum, aber wir finden die farbliche Fokussierung spannend, so wie wir – natürlich – historische Großereignisse spannend finden: Bedient man allerdings den Schieberegler, der drei verschiedene Varianten von Édouard Manets Gemälde „Die Erschießung Kaiser Maximilians“ offenbart, mag Enttäuschung überwiegen: Das können die Filter einer einschlägigen App im Handy eines Zwölfjährigen auch, könnte man denken.
Digital kommt man ganz nah an Otto Dix’ Hauptwerk „Großstadt“ Foto: Kunstmuseum Stuttgart//VG Bild Kunst, Bonn 2024 für Otto Dix
Aber um den intellektuellen Zugang geht es bei diesem Digitalprojekt zur Annäherung an analog Gemaltes nur in zweiter Linie: Das Kunstmuseum Stuttgart und die Kunsthalle Mannheim haben eher eine Art Sandkasten für Erwachsene geschaffen, wo per Spiellust sinnliche Erfahrungen aktiviert werden können, etwa wenn man Constantin Brâncușis Skulptur „Der große Fisch“ aus gewagten Perspektiven erkunden darf, die in der analogen Wirklichkeit entsetzte Museumswärter auf den Plan rufen würden. Oder wenn man sich in Nevin Aladağs „Resonanzraum“ selbst als Soundmixer versuchen darf. Ein bisschen mehr Kontrabass, ein bisschen weniger Flöte – schon verlustiert sich die klagende Frauenstimme in deutlich dunkler grundierter Umgebung. Jetzt noch die Stimme absenken und selber zur Musik summen? Was für ein Spaß!
Kopfhörer steigern das Vergnügen zu Hause
Nicht alle der 22 Digitalversionen der ausgewählten Werke beinhalten derart inspirierende Möglichkeiten. Zuweilen wird auch einfach nur einem Bild ein Klang hinzugefügt, einem Ding eine Bewegung oder einem Kunstwerk eine Erklärung. Aber ein paar Klicks weiter schlummert schon wieder einer dieser Digitalapparate, den zu starten Vergnügen verspricht oder Erkenntnisgewinn oder manchmal sogar beides. Geheimtipp: Kopfhörer vermögen sinnierende Partner im Heimbüro vor radikalen Klangexperimenten zuverlässig zu schützen.
Geöffnet „Vom Werk zum Display“ im Kunstmuseum Stuttgart (Schlossplatz) ist zu sehen bis zum 12. April. Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Freitag 10 bis 21 Uhr. Eintritt: 6 Euro (regulär) / 4 Euro (ermäßigt) / 2 Euro (gültig 1 Stunde vor Schließung)
Kunstmuseum Das Kunstmuseum Stuttgart feiert in diesem Jahr den 20. Geburtstag des Neubaus am Schlossplatz. Aktuell als große Sonderausstellung im Kunstmuseum-Kubus zu sehen, ist die Präsentation zum Werk der US-amerikanischen Starkünstlerin Sarah Morris („All Systems Fail“). Die Schau „Grafik für die Diktatur“ beleuchtet die Sammlungsgeschichte.