Wer viel Computer spielt, wird oft misstrauisch beäugt. Die Corona-Pandemie könnte das ändern. Warum jetzt sogar die Weltgesundheitsorganisation Computerspiele empfiehlt und wie ein Gamer aus Stuttgart auf die Pandemie blickt.

Stuttgart - Vergangenen Mittwoch war bei Paul wieder Stammtisch. Er blieb dafür zu Hause. Der 30-jährige Stuttgarter und seine Freunde trafen sich nicht in der Kneipe, sondern auf Discord. Die Chat- und Videokonferenzplattform ist unter Gamern beliebt. Anlass für das Treffen: Eine neue Runde von „Team Fortress 2“. Bei dem Computerspiel im Comic-Stil liefern sich die Spieler schnelle Gefechte. Paul und seine Kumpels bildeten ein Team und spielten über das Internet gegen andere, die sie nicht kennen. Nebenher lief auf Discord das Stammtischgespräch.

 

Viele entdecken eine alte Leidenschaft

„Wir haben Headsets auf und beraten ein bisschen über das Schlachtfeld und unsere Taktik. Aber wir sprechen auch über andere Dinge: Wie ist der Stand bei der Arbeit? Was gibt’s Neues?“, sagt Paul. „Das ist vergleichbar mit einer Skatrunde. Nur dass man Computer auch zusammen spielen kann, wenn man physisch nicht an einem Ort ist.“

Paul ist Ingenieur und lebt im Stuttgarter Süden. Seinen Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Die große Zockerphase hat er längst hinter sich. Als Jugendlicher habe er 40 Stunden die Woche gespielt – immer vor und nach dem Fußballtraining. „Als ich regelmäßiger Freundinnen hatte, hörte ich auf.“

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WHO-Botschafter twittert zu Computerspielen

Seit einigen Wochen entdecken er und seine Kumpels nun eine alte Leidenschaft wieder. Wer viele Stunden pro Woche mit Computerspielen verbringt, galt lange als Nerd, als Stubenhocker ohne Freunde, als körperlich unausgeglichen und natürlich von Spielsucht gefährdet. Doch in der Coronakrise scheint die Zeit der Zocker gekommen zu sein.

Auf Steam, einer der weltweit größten Computerspieleplattformen, jagt derzeit ein Nutzerrekord den nächsten. Am 2. April waren dort in der Spitze 23,8 Millionen Menschen gleichzeitig aktiv. Bevor die Pandemie Deutschland erreichte, galt schon der Wert von 18,8 Millionen – verzeichnet Anfang Februar 2020 – als historisches Maximum. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt nun offiziell das Computerspielen. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Organisation erst vor knapp einem Jahr Online-Spielsucht in den Katalog der offiziellen Krankheiten aufgenommen hatte. „Wir ermutigen alle to #playaparttogether“, schrieb Ray Chambers, WHO-Botschafter für globale Strategie, jetzt auf dem Nachrichtendienst Twitter.

Das Gemeinschaftsgefühl macht Gaming jetzt wertvoll

„Playaparttogether“ lässt sich in etwa so übersetzen: „Miteinander spielen, aber räumlich getrennt“. Unter dem Schlagwort haben rund 20 führende Unternehmen der Computerspieleindustrie eine Initiative ins Leben gerufen, die Gamer ermutigen soll: Nehmt die Regeln der WHO ernst und bleibt zu Hause. Um die Nutzer bei Laune zu halten, gibt es auf den Plattformen in diesen Tagen diverse Turniere, Vergünstigungen und Aktionen, bei denen man zum Teil auch echtes Geld gewinnen kann.

450 Euro kamen so in den letzten Tagen bei Leon zusammen. Der 18-Jährige aus München macht eine Ausbildung zum Fachinformatiker. Die Berufsschule ist geschlossen, rausgehen soll man nicht. Drei bis vier Stunden mehr pro Tag spiele er jetzt im Vergleich zu Urlaubszeiten, sagt Leon. „Ich habe das Gefühl, dass von der Industrie gerade der Impuls ausgeht, ein Gemeinschaftsgefühl unter Spielern zu bilden.“

Über „Minecraft“ neue Bekanntschaften gemacht

Dass Gaming tatsächlich zu neuen Bekanntschaften führen kann, hat Leon selbst schon erlebt. Über „Minecraft“ lernte er vor Jahren zwei Gamer in seinem Alter aus Österreich und aus Hamburg kennen. Später trafen sich die drei auf der Spielemesse Gamescom persönlich. In der Coronakrise fallen Leon neue Gesichter auf den Plattformen auf – „Underdogs, die man sonst nicht so kennt“. Betrug die Wartezeit auf einen Gegenspieler aus dem Internet früher zum Teil Minuten, sind es derzeit meist nur Sekunden, so Leon.

Yaya Blank aus Nordrhein-Westfalen zockt in der Coronakrise auch mit seiner Freundin. Der 30-Jährige verdient einen Teil seines Lebensunterhalts mit dem Youtubekanal „SheeshTeam“, auf dem sich alles um das Videospiel Fifa dreht. „Ich könnte mir vorstellen, dass derzeit viele Menschen über ihren Partner oder ihre Mitbewohner neu mit Computerspielen in Berührung kommen. Einfach weil alle zu Hause sind und man mal sieht: Was macht der andere da eigentlich immer?“, sagt Blank. So sei es bei ihm und seiner Freundin.

DFL: Profispieler an die Konsole beordert

Bemerkenswert findet Blank auch, dass die Deutsche Fußballliga wegen der Corona-Pandemie selbst ihre Profispieler an die Konsole beordert. In der „Bundesliga Home Challenge“ treten pro teilnehmendem Team zwei Spieler zusammen an – ein Fußball-Profi und eine Person aus dem Clubumfeld. Letzteres können YouTuber, Fans oder professionelle E-Sportler sein. „Dass es so einen Wettbewerb mit Lizenzspielern überhaupt gibt, wäre bislang undenkbar gewesen“, sagt Blank. Er vermutet, dass dadurch einige Fans neu mit E-Sports – also mit dem professionellen Wettbewerb bei Computer- und Videospielen – in Berührung kommen.

Paul aus Stuttgart ist skeptisch, ob die Ausnahmesituation dauerhaft Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Gaming haben wird. „Die Leute, die negativ darüber sprechen, haben es meist nie ausprobiert“, sagt Paul. Er freut sich jedenfalls, wenn in seinem Zwangsurlaub nach Fahrradfahren, Kochen, Spazieren und anderer Zerstreuung wieder Stammtischzeit ist.