Noch nie wurden so viele Probleme mit Implantaten gemeldet wie im vergangenen Jahr. Was ist da los? Und was müssen Patienten jetzt wissen?

Stuttgart - Fehlerhafte Medizinprodukte können den Körper schwer schädigen. Recherchen von Journalisten aus 36 Ländern haben das aufgezeigt. Das müssen Patienten jetzt wissen.

 

Was weiß man über die Risiken, die von Medizinprodukten ausgehen?

Medizinprodukte wie Herzschrittmacher, Insulinpumpen oder Gelenkprothesen können Leben retten oder die Lebensqualität verbessern. Ihr Einsatz ist aber nicht ohne Risiken. Durch ein fehlerhaftes Implantat kann sich der Gesundheitszustand des Patienten verschlechtern. Todesfälle sind nicht ausgeschlossen. In Deutschland sind der zuständigen Bundesbehörde BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) 2017 durch Hersteller, Kliniken und Ärzte knapp 14 000 sogenannte Vorkommnisse gemeldet worden. So viele Verdachtsfälle, in denen es mutmaßlich Probleme mit Medizinprodukten gab, wurden noch nie registriert. Auch rund 220 Todesfälle waren darunter. Allerdings ist unklar, wie viele von ihnen tatsächlich auf ein Medizinprodukt zurückzuführen sind. Nach Recherchen von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ wurde nur in sechs Fällen ein Fehler in Bezug auf das Produkt festgestellt.

Wie können Patienten mögliche Risiken minimieren?

Patienten sollten hellhörig werden, wenn der Arzt ihnen vorschlägt, ein neuartiges Medizinprodukt zu verwenden. Häufig werden solche Neuheiten damit beworben, dass ihre Einpflanzung besonders schonend sei. Patienten sollten sich nicht blenden lassen und fragen, warum das neue Produkt einem bereits lange erprobten Standardprodukt vorzuziehen sei. Eine neue Gefäßstütze (Stent) etwa könnte auf längere Sicht schlechter abschneiden als ein bewährtes Implantat. Verlässliche Aussagen dazu sind zum Zeitpunkt der Markteinführung eines neuen Implantats in der Regel nicht möglich, da den Recherchen zufolge 90 Prozent der Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse nicht klinisch getestet werden.

Wie können Ärzte, die sich für ein neues Medizinprodukt entscheiden, mögliche Risiken für ihre Patienten ausschließen?

Ärzte sind zunächst auch auf Angaben der Hersteller angewiesen, die ihr Produkt naturgemäß in den höchsten Tönen loben. Im Unterschied zu Patienten haben sie jedoch weiter gehende Möglichkeiten, sich von der Qualität eines Produkts zu überzeugen. Unverzichtbar ist es beispielsweise, nach internationalen Studien zu neuen Verfahren und Medizinprodukten zu suchen. Auch Erfahrungsberichte von Kollegen können helfen. Peter Aldinger, Ärztlicher Direktor der Orthopädie am Diakonie-Klinikum Stuttgart, empfiehlt grundsätzlich „extreme Zurückhaltung“. Sein Haus verwende Hüftschäfte, die seit 35 Jahren auf dem Markt sind. Die Modelle seien entsprechend bewährt. „Veränderungen gibt es eigentlich nur noch an der Zusammensetzung der verwendeten Kunststoffe, um die Prothesen haltbarer zu machen“, sagt Aldinger. Beim Wechsel auf ein neues Implantat sei zu bedenken, dass Operateure den Umgang damit erst lernen müssen. In den ersten Jahren gebe es deshalb mehr Komplikationen. Auch dies spreche für eine konservative Herangehensweise.

Wie läuft die Genehmigung von Medizinprodukten ab?

Wer in Europa etwa eine neue Herzklappe auf den Markt bringen möchte, beauftragt eine sogenannte Benannte Stelle, das Produkt zertifizieren zu lassen. Es gibt europaweit 80 staatlich zugelassene Zertifizierungsstellen, in Deutschland gehören Tüv und Dekra dazu. Die privaten Prüfunternehmen tun nur, was ihnen EU-Richtlinien vorgeben – und wofür sie vom Hersteller selbst bezahlt werden. Sie bewerten, ob das Produkt sicher und leistungsfähig ist. Dazu wälzen sie Unterlagen, nehmen Produktion und Produkte in Augenschein. Sind die Anforderungen erfüllt, gibt es das CE-Zeichen und die Freigabe zum Verkauf. Eine strenge staatliche Zulassung für Hochrisiko-Produkte, wie viele Experten sie analog zur Arzneimittelzulassung fordern, gibt es nicht. Gewisse Fortschritte brachte die 2016 verabschiedete neue EU-Richtlinie für Medizinprodukte, die aber erst noch greifen muss. Hersteller müssen in Zukunft die Wirksamkeit ihrer Produkte klinisch nachweisen. Zudem müssen sie zu Produkten aus höheren Risikoklassen selbst klinische Studien auflegen. Im Schadenfall sollen darüber hinaus Kennnummern gewährleisten, dass jedes einzelne Implantat zurückverfolgt werden kann.

Warum gibt es keine strengeren Auflagen für Medizinprodukte?

Laut Markus Thalheimer, Leiter der Qualitätssicherung am Universitätsklinikum Heidelberg, hat es zuletzt durchaus Verbesserungen aus Patientensicht gegeben. So müssten alle Kliniken seit 2017 Sicherheitsbeauftragte für Medizinprodukte ernennen. Er vermutet, dass dies auch dazu geführt hat, dass 2017 so viele Verdachtsfälle an das BfArM gemeldet wurden. Grundsätzlich fordert er mehr Druck auf die Hersteller. Ziel müsse sein, die Zulassungsverfahren transparenter zu gestalten. Die vergangenen Jahre hätten aber gezeigt, dass die Bundesregierung daran nicht interessiert sei. Andernfalls hätte sie verpflichtende Implantateregister durchgesetzt, um fehlerhaften Produkten auf die Schliche kommen zu können. Die Regierung schütze letztlich die Interessen eines Industriezweigs, der in Deutschland sehr stark sei. „Das erinnert mich an das Verhalten in der Dieselaffäre“, so Thalheimer.