Mediziner warnen davor, die Krankheit zu unterschätzen. Einige Kinder sterben an schweren Komplikationen. Noch sind in Baden-Württemberg nicht genügend Menschen geimpft, um die Masern auszurotten.

Stuttgart - Natalie ist zehn Jahre alt und geht in die dritte Klasse. Ein normales aufgewecktes Mädchen, das voller Freude durch das Leben tollt und später einmal Fotografin werden möchte. Doch daraus wird nichts, denn Natalies Leben ist zu Ende, bevor es richtig angefangen hat. Von einem Tag auf den anderen bricht bei ihr eine chronische Gehirnentzündung aus, die sogenannte subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE). Innerhalb weniger Wochen wird das Kind zum Pflegefall. Sie kann weder lesen noch sprechen noch laufen und muss gefüttert werden. Ausgelöst wird diese chronisch schleichende Zerstörung des Nervensystems durch Masernviren, die sich im Gehirn eingenistet haben.

 

Natalie hat sich im Alter von zwölf Monaten mit den Masern angesteckt. Die Viren in Natalies Nervenzellen haben sich erst Jahre später vermehrt – das ist typisch für SSPE, die Spätfolge einer Maserninfektion. Und nun zerstören sie unwiderruflich die Zellen in Natalies Gehirn, so dass dort regelrechte Löcher entstehen. Die Krankheit ist nicht heilbar und führt unweigerlich zum Tod. Natalies Schicksal kann man sich im Internet bei www.kinderaerzte-im-netz.de anschauen.

Natalies Mutter erklärt in dem Video, dass sie es nicht verstehen kann, wenn Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen: „Diese Menschen setzen nicht nur das Leben ihres eigenen Kindes aufs Spiel, sondern auch das der anderen“, sagt sie. Diese tödliche Erkrankung, die nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) nach einer von 5000 Maserninfektionen im ersten Lebensjahr auftreten kann, müsste nicht sein. Ebenso wenig wie andere Komplikationen, die durch Masernviren auftreten. Eine vorübergehende Immunschwäche führt zum Beispiel dazu, dass die Patienten eine Lungen- oder Mittelohrentzündung bekommen können. Am meisten fürchtet man jedoch die Maserngehirnentzündung – nicht zu verwechseln mit der SSPE. Diese Entzündung kann als Symptom gleich auftreten. Von 1000 Kindern, die sich im Schulalter mit Masern anstecken, leidet im Schnitt ein Kind an dieser Form der Hirnentzündung. 20 Prozent dieser Kinder sterben daran. Betroffene, die dies überleben, leiden oft ihr ganzes Leben an neurologischen Schäden.

„Die Impfquoten in Stuttgart sind nicht umwerfend“

Seit 50 Jahren gibt es einen Impfschutz gegen Masernviren. Die Erreger ließen sich ausrotten, wären 95 Prozent der Bevölkerung geimpft. In den USA und den skandinavischen Ländern ist das bereits gelungen – dort gibt es die Kinderkrankheit nicht mehr. Masern weltweit auszurotten ist daher nicht nur ein erklärtes Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sondern auch der für Infektionskrankheiten zuständigen deutschen Behörden. Angestrebt ist das Jahr 2015. Doch ob man dies in Deutschland schafft, ist fraglich.

Die Zahl der Fälle ist in diesem Jahr besonders hoch. Kinderärzte und einige Politiker fordern eine Impfpflicht, und Beamte des Gesundheitsamtes prüfen, ob nicht geimpfte Kinder bei einem Ausbruch der Erkrankung in ihrer Schule vom Unterricht ausgeschlossen werden können.

„Die Impfquoten in Stuttgart sind nicht umwerfend“, sagt der zuständige Sachgebietsleiter im Stuttgarter Gesundheitsamt, Martin Priwitzer. Unter den in diesem Jahr Erkrankten seien auch jüngere Erwachsene, die sich trotz einer Impfung angesteckt hätten, weil sie nur eine Teilimmunität besäßen: In den 70er und 80er Jahren sei noch eine Einmalimpfung bei Masern üblich gewesen. Inzwischen wird der Piks zweimal durchgeführt: im Alter von 11 bis 14 Monaten und die zweite Gabe bis zum 23. Monat. Dadurch sei der Schutz deutlich gestiegen, sagt Priwitzer.

Dass eine Impfpflicht funktioniert, habe man an den Pocken gesehen, so Priwitzer. So etwas lasse sich auch über ein Landesgesetz regeln. Letztlich könne auch der Träger von Kindertagesstätten bestimmen, dass nur geimpfte Kinder aufgenommen werden. Allerdings kollidiere das mit dem Recht auf einen Betreuungsplatz.

Nach Ansicht von Medizinern unterschätzen Impfgegner die Erkrankung und überschätzen die Nebenwirkungen; auch die Weltanschauung spielt eine große Rolle. „Ich halte die Impfung für wichtig und sinnvoll und denke, dass das Kind sonst unnötig gefährdet wird“, sagt der Kinder- und Jugendarzt Thomas Jansen, der auch im Aufsichtsrat des sogenannten Päd Netz S sitzt, der Genossenschaft der fachärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. In seiner Zeit als Arzt in der Kinderklinik hat Jansen Fälle von schweren Maserngehirnentzündungen gesehen. Eine schwere Reaktion auf eine Impfung sei ihm hingegen noch nie untergekommen. Wer aus ideologischen Gründen nicht impfe, sei allerdings schwer zu überzeugen, sagt Jansen. „Diese Eltern kommen auch nicht zu mir in die Praxis.“

Tendenz steigend

Die CDU-Gemeinderatsfraktion in Stuttgart regt eine Standard-Impfpflicht als Aufnahmevoraussetzung für Kindertagesstätten an. Angesichts steigender Fälle von Masern solle die Verwaltung aufführen, was gegen eine Standard-Impfpflicht spricht, heißt es in einem Antrag. Auch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr hatte kürzlich, wie berichtet, eine Impfpflicht ins Gespräch gebracht, nachdem in einer Waldorfschule bei Köln die Masern ausgebrochen waren mit 39 Erkrankten.

Im Vergleich dazu sind die Zahlen in Stuttgart gering. Acht Fälle von Masern weist die Statistik des städtischen Gesundheitsamts bis Anfang Juli aus – aber auch das bedeutet einen Anstieg. 2012 waren es neun Erkrankungen im Jahr gewesen. Auch landesweit steigen die Zahlen: bis Anfang Juli 19 Fälle. 2012 waren es 16 Erkrankungen im gesamten Jahr. Die letzte Masernepidemie in Deutschland ist sieben Jahre her: In Nordrhein-Westfalen erkrankten damals rund 1700 Kinder.