Als Jules Verne seinen Romanhelden in 80 Tagen um die Welt schickte, versprach die Ferne noch Abenteuer. StZ-Kolumnist Erik Raidt sucht die Exotik nun vor der Haustür: Er reist in den nächsten drei Wochen „In 80 Zeilen um Stuttgart“.

Stuttgart - Als die Wette schließlich besiegelt ist, bekommt Phileas Fogg deutliche Worte zu hören: „Das ist doch verrückt!“, entgegnet ihm einer der Gentlemen, der soeben seinen verwegenen Vorschlag vernommen hat: Fogg will in 80 Tagen um die Welt reisen, von London nach Suez, von Suez nach Bombay, über China, Japan und quer durch Amerika wieder zurück nach Europa. Phileas Fogg wettet um 4000 Pfund, er will sich auf seiner Reise weder von Flamencotänzerinnen noch von Indianern aufhalten lassen, er will Seestürmen und Zugverspätungen trotzen. Man schreibt das Jahr 1873 – und Phileas Fogg ist der unsterbliche Romanheld von Jules Verne, er steht für eine Figur, die mitten in der alles umwälzenden Industrialisierung zur Reise ihres Lebens aufbricht. Exotik, Rausch, Verzweiflung – all inclusive.

 

Stuttgart 2015. Das technische Wunder der Eisenbahn hat sich inzwischen etwas relativiert, Indianerüberfälle wurden zuletzt an Rosenmontag verzeichnet, und die Welt hat dank Google und Wikipedia auch in den entlegensten Winkeln einige Geheimnisse verloren. Wie aber wäre es, heute in seiner eigenen Heimatstadt aufzubrechen, um das Exotische vor der Haustür zu finden? Zu einer Reise, die nicht wie bei Phileas Fogg in London beginnt, sondern vom Büro im Möhringer Pressehaus aus einmal rund um die Stuttgarter Innenstadt führt? Jeden Tag soll die „Stadt-Expedition“ im Uhrzeigersinn von einem Bezirk zum nächsten führen. Morgen geht’s los, am Montag steht der erste Etappenbericht an dieser Stelle in der Stuttgarter Zeitung.

Recherche und Google sind nicht erlaubt

Für die Expedition gelten zwei selbst aufgestellte Regeln. Erstens: der Autor hat keine Ahnung, was ihn erwartet. Er recherchiert nicht vorab, er trifft keine Menschen zu vereinbarten Terminen und hat auch nicht gegoogelt, wo er mittags isst und die schattigsten Parkbänke stehen. Zweitens: was er erlebt, steht hinterher gekürzt, gestrafft und glatt gebügelt auf einer Länge von 80 Zeilen im Blatt. Keine Zeile mehr, keine weniger: „In 80 Zeilen um Stuttgart“ statt „In 80 Tagen um die Welt.“

Die Sache mit dem Wettrennen hat sich ohnehin totgelaufen. Seit Phileas Foggs Reise wurden Schallmauern durchbrochen, und Züge fahren nicht nur schnell, sie sind Transrapid. Zu Jules Vernes Zeiten schien die Beschleunigung noch eine Verheißung, heute kommt sie vielen Menschen wie ein Fluch vor, der sie täglich aufs Neue niederdrückt. Fast jeder trägt ein Smartphone mit sich herum, das vibriert, piept und unerbittlich an die nächsten Termine erinnert. Der kleine Zeit-Diktator ist ein hartnäckiger Begleiter, auch während des Sommerurlaubs.

Eine Hafenkneipe in Wangen

Wie aber sieht die Heimatstadt aus, wenn die eigene Nase nicht mehr am Display klebt, wenn man Wege in der Stadt einschlägt, die man nie zuvor gegangen ist und dabei Menschen, vielleicht auch Tieren, zufällig begegnet? Es geht nicht nach Bombay, sondern unter anderem nach Botnang, und falls sich irgendwo unterwegs – wie bei Phileas Fogg – eine zwielichtige Hafenkneipe auftun sollte, wird sich diese nicht in Hongkong, sondern eher in Stuttgart-Wangen befinden. Drei Wochen lang wird die Expedition vor die Haustür auf Nebenstraßen und Gassen durch Stuttgart führen – und auf 80 Zeilen eine Menge Exotisches entdecken. Die Wette gilt.