Vom Mittelalter geht es in die Gegenwart – und einmal quer durch Mühlhausen. StZ-Kolumnist Erik Raidt schaut am Max-Eyth-See eine Weile einem Angler mit interessanter Lebensgeschichte über die Schulter.

Stuttgart - Ich stehe auf einer Burg, ich sehe eine Burg: In einem Park oberhalb des alten Ortskerns von Mühlhausen sind auf einer Anhöhe nur noch die Grundmauern der einstigen Engelburg erhalten. Unkraut und Moos schließen die Mauerreste mit einem grünen Umhang ein. Von dort oben bietet sich ein Panoramablick. Im Tal blitzt da und dort der Neckar zwischen Weinbergen auf, am Horizont steht der Fernsehturm schmal wie eine Stecknadel und auf der anderen Flussseite ragt ein Hochhaus wie eine moderne Trutzburg in den Himmel. An diesem Morgen versuche ich mir vorzustellen, wie die Bewohner der Engelburg im 13. Jahrhundert auf das Neckartal hinabblickten: Dünn besiedelt war die Gegend damals, der Verlauf des Neckars folgte noch dem Willen des Wassers, wilde Tiere streiften durch die Wälder. Und die Herren der Engelburg hatten einen freien Blick auf all diejenigen, die entlang des Neckars Handelsgüter transportierten, und auf Feinde, die sich näherten.

 

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Was damals eine Tagesreise entfernt lag, verbindet die Stadtbahn heute in einer halben Stunde. Meine Zeitreise endet, nächste Haltestelle: Gegenwart. An Stadtbahngleisen und am Neckarufer entlang spaziere ich flussaufwärts, vorbei an der Hofener Schleuse und mitten hinein in eines der größten Naherholungsgebiete der Stadt – an der Anlegestelle der Wassersportgemeinschaft Stuttgart liegen die Ladys nebeneinander, eine eleganter als die andere: Edelgard und Mercedes, auch die Scandinavia – die Boote sind vertäut. Es ist ruhig an diesem Morgen – auf dem Neckar und auch auf dem Max-Eyth-See, wo sich vor allem an den Wochenenden die Segler, Kajakfahrer und Freizeitkapitäne treffen.

Auf einem Steg am See steht ein Mann, an dessen Händen Blut klebt. Als ich mich ihm nähere, reißt er halb im Scherz die Hände in die Höhe: „Kontrolle?!“ Dabei will ich nur wissen, ob er an diesem Tag schon Fische gefangen hat. Viktor Maier kommt ein- vielleicht zweimal in der Woche an den Max-Eyth-See. Er bringt seinen Klappstuhl mit, seine Angelrute und seine Köder. Maier fängt den Fisch mit Mais. Er hat einige Körner auf das Geländer gelegt, piekst mit dem Haken eines davon auf und probiert sein Glück. Nur wenige Minuten später vibriert seine Angelrute und Maier zeigt seinen Fang: ein Rotauge. „Wenn es kälter wird, fange ich auch Karpfen.“

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Beim Angeln erzählt der 73-Jährige seine Familiengeschichte: wie seine Urahnen einst aus Württemberg nach Russland auswanderten, wie sein Vater als junger Soldat gegen die Nazis kämpfte und nach dem Krieg in Deutschland blieb. Seine Mutter harrte mit zwei kleinen Kindern in der alten Heimat aus, in der die Russlanddeutschen nun Fremde geworden waren – auch jene, die gegen Hitler gekämpft hatten. „Meine Mutter hat einen Ausreiseantrag nach Deutschland gestellt, aber wir mussten bleiben“, erzählt Viktor Maier. Erst Gorbatschow ließ sie gehen, seit 1988 lebt Viktor Maier mit seiner Frau und drei Kindern in Deutschland.

Der Angler schüttelt den Kopf, tötet das Rotauge mit einer schnellen Handbewegung und wirft den Fischkopf einem Reiher zu, der nur wenige Meter entfernt auf diesen Moment gewartet hat. Die beiden kennen sich gut: Der Reiher und Herr Maier, zwei Freunde vom Max-Eyth-See.