Auf dem Weg von Zuffenhausen nach Stammheim geht es hoch hinaus: Im Stadtteil Rot erklimmt StZ-Kolumnist bei seiner Stadt-Expedition den Hochhausturm Romeo – und trifft einen Indianer.

Stuttgart - Hier wollte ich schon immer hinauf. Romeo und Julia, zwei Hochhäuser, die alles in Rot in den Schatten stellen, zwei Türme, die die Fantasie beflügeln. Der Zweite Weltkrieg war schon eine Weile vorbei, da haben Romeo und Julia vielen eine Heimat gegeben, die als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen. Romeo und Julia – das ist gerade heute eine aktuelle Geschichte. Doch wer wohnt eigentlich ganz oben? Ich lasse den Aufzug links liegen, nehme die Treppe, schnaufe 18 Stockwerke hinauf und öffne rumpelnd eine Tür, die zu einem Gang führt.

 

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Da öffnet sich eine Wohnungstür, noch bevor ich klingeln kann, und ein Mann mit Pferdeschwanz, imposanten Oberarmen und Muscle-Shirt tritt mir entgegen. Auf einem Finger balanciert er einen Papagei. Der Mann und das Tier mustern mich streng: „Was machen Sie hier?“ Zwei Minuten später sind wir mitten im Gespräch. Bald weiß ich, dass das Tier ein Rostkappenpapagei und eine Dame ist, die auf den Namen Luna hört und gerne Holzverschläge zernagt. Der Mann im Shirt heißt Andreas Laschinsky, er wohnt seit 20 Jahren im obersten Stockwerk des Romeo – in jener Wohnung, in der einst der Architekt Hans Scharoun lebte, der nicht nur, aber auch, durch Romeo und Julia berühmt wurde.

Wie es sich im Romeo, mit seinen mehr als 100 Wohneinheiten lebt? „Für mich ist es perfekt“, erzählt der 49-Jährige, „du kannst hier deine Ruhe haben und trotzdem mit den Menschen ins Gespräch kommen.“ Mit manchen ist er per Du, andere kennt er nur flüchtig, „außerdem siehst du im Romeo jeden Tag ein neues Gesicht“. Wenn er keine Lust hat, muss er den Turm nicht verlassen: Im ersten Stock praktizieren zwei Ärzte, im Erdgeschoss gibt es einen Kiosk, einen Friseur, einen Bäcker, einen Waschsalon und vieles mehr. Aber das ist nicht der wahre Grund, warum Laschinsky dem Romeo die Treue gehalten hat: „Im indianischen Sternzeichen bin ich Rabe, und Vögel wollen hoch hinaus.“

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Andreas Laschinsky ist der Hochhausindianer von Rot. In seinem Wohnzimmer steht ein Marterpfahl, daneben hängt eine  Indianermaske, draußen droht eine mannshohe Indianerfigur mit einem Tomahawk in der Hand. Schon als Junge haben ihn Indianer fasziniert, bei anderen hat es aufgehört, bei ihm nie. Wir gehen auf die Terrasse zum Strandkorb, in dem Laschinsky seinen Logensitz hat, wenn die Sonne untergeht. Der Hochhausindianer zeigt sein Aussichtsreich: das Remstal, das Schloss Solitude, den Engelberg und neben dem Julia-Turm seine alte Grundschule.

Leider muss ich schon weiter, obwohl der Indianer, der Papagei mit dem gelben Kopf und der weiße Mann so gut ins Gespräch gekommen sind. Runter nehme ich den Aufzug. Ich schlendere durch die Haupteinkaufsstraße von Zuffenhausen, die in sonntäglicher Stille schlummert. Den Weg von Zuffenhausen nach Stammheim zerschneiden die Bundesstraßen 10 und 27, Stuttgart zeigt mir seinen Auspuff. Hinter dem Ortseingang von Stammheim klatscht ein Ball gegen den Rand eines Basketballkorbs. Ein junger Mann trainiert auf einem Sportplatz Würfe, der Platz ist von einem Gitterzaun umgrenzt. Beim Blick auf die Gitter muss ich mich zwingen, nicht an den Knast zu denken. Stammheim hat viel mehr zu bieten, da bin ich mir sicher.