Ob die Möhringer nachts Merengue tanzen? Zum Beginn der Reise stellen sich Fragen. StZ-Kolumnist Erik Raidt sucht die Exotik vor der Haustür: Er reist in den nächsten drei Wochen „In 80 Zeilen um Stuttgart“.

Alles fängt mit einer Schusseligkeit an, bei Jules Verne und bei mir. Bei Jules Verne vergisst der Diener des Weltreisenden Phileas Fogg, am Anfang der Reise zu Hause die Gasheizung abzustellen. Ich vergesse lediglich, den Abwesenheitsassistenten meines Computers einzurichten. Es wird sich noch herausstellen, was im Nachhinein mehr Nerven kosten wird. Gemeinsam ist uns beiden die Knappheit: Phileas Fogg blieben 80 Tage, um die Welt zu bereisen, mir bleiben immer nur 80 Zeilen, um aufzuschreiben, was ich bei meiner Reise in Stuttgart erlebe.

 

Ein Bau von betonösem Charme

Schon ziemlich viele Zeilen verschwendet. Sonntagmorgen, es fällt nicht schwer, loszulassen. Das Pressehaus in Möhringen ist ein Bau von betonösem Charme. Die Stuttgarter Tropensonne hängt hinter Wolken verborgen am Himmel, im Gras zirpen die Grillen. Der Weg führt an Stadtbahngleisen entlang zu jenem Entertainment-Komplex, der gerne ein schwäbischer Broadway wäre. Auf einem Werbeplakat schwingt sich Tarzan den Musicalbesuchern entgegen. Aber wer dem Broadway hier den Rücken kehrt, der sieht nicht Manhattan, er blickt auf vertrocknete Felder. Wo Tarzan die Liebe sucht, riecht es an diesem Morgen nach Gülle.

Nur die Schmetterlinge tanzen

Wenn ich an Möhringen denke, kommt mir automatisch Merengue in den Sinn, obwohl ich es besser wissen sollte: Von allen lateinamerikanischen Ländern, wäre das lautmalerische Merengue-Möhringen die hüftsteifste Nation. An diesem Sonntag tanzen in einer leicht betagten Neubausiedlung unweit von Tarzans Heimat nur die Schmetterlinge in den Vorgärten. Still ruhen Kindertrampoline und Kugelgrills, und ich frage mich, ob die Möhringer abends, wenn die Schatten kommen, gewaltige Boxentürme in ihren Garageneinfahrten aufstellen, um zu wummernden Bässen hemmungslos die Hüften kreisen zu lassen.

Meine Fieberfantasie weicht der Realität. Im Schimmelreiterweg, wuchtet ein Mann seine Golfschläger ins Auto, er ignoriert die Glocken der Martinskirche, dort endet rechtzeitig vor dem Sonntagsbraten der Gottesdienst. In einem Hinterhof bücken sich zwei Männer über Tomaten und Salat. Das sehe ich oft im alten Teil von Möhringen: im Garten eine Gemüsevielfalt, mit der man einen Markstand füllen könnte. Sollte Stuttgart je zur Selbstversorgung zurückkehren, würden die Möhringer nicht verhungern.

Ein Schild warnt vor einer Kampfkatze

Aber ich muss weiter, es bleiben mir nur 80 Zeilen. Im Kalifenweg fällt mir wieder Phileas Fogg ein, der auf dem Suezkanal schipperte. Auch ich sehe mich Gefahren ausgesetzt. Ein Schild warnt mich vor einer Kampfkatze, aber ich entkomme ihr über den Rohrer Weg – einer alten Handelsstraße zwischen den früheren Bauerndörfern Möhringen und Rohr. Süßlich steigt der Apfelgeruch von den Streuobstwiesen in meine Nase, vorbei an mannshohen Sonnenblumen geht es weiter nach Dürrlewang. Ein Radfahrer beweist mir, dass Hawaiihemden im Tom Selleck-Stil auch in diesem Sommer wieder modern sind.

Auf dem Rohrer Weg mit seinen Flüsschen und Feldern vergesse ich die Stadt, das Musicalzentrum und das Industriegebiet. Über solchen Tagträumereien endet die erste Etappe am Rohrer See. Den gibt es wirklich. Genau wie die Bärenfigur an seinem Ufer, doch dazu morgen mehr.

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie auch hier!