Jahrelang hat Indien weggeschaut, wenn Frauen vergewaltigt wurden. Jetzt scheint sich das langsam zu ändern. Im Eiltempo wurden die Peiniger der missbrauchten und gefolterten Medizinstudentin des Mordes angeklagt.

Neu Delhi - Tausend Seiten soll die Anklageschrift dick sein. Es sind Dokumente des Grauens. Im Eiltempo ist am Donnerstag in Neu-Delhi Mordanklage gegen fünf der sechs Männer erhoben worden, die Mitte Dezember eine 23-jährige Inderin vergewaltigt und gefoltert haben. Der Prozess soll bereits am Samstag beginnen. Den Beschuldigten droht die Todesstrafe. Bei dem sechsten Täter ist noch unklar, ob er 17 Jahre alt oder schon volljährig ist. Ist er minderjährig, wird gegen ihn nur nach Jugendstrafrecht verhandelt.

 

Die junge Frau wurde zur Symbolfigur für das Leid ungezählter Frauen in Indien. Die sechs Männer hatten die 23-Jährige und ihren Begleiter in einen Bus gelockt, den Freund bewusstlos geschlagen, die Frau vergewaltigt und grausam misshandelt – mitten in Indiens moderner Kapitale Delhi. Anschließend warfen sie das Paar auf die Straße und versuchten, die Frau zu überfahren. Ihr Freund konnte sie rechtzeitig wegziehen. 13 Tage später gab ihr geschundener Körper auf. Sie starb.

Die Gesellschaft scheint endlich aufzuwachen

Ihr Martyrium hat Indien aufgerüttelt, die Fernsehsender kennen kaum noch ein anderes Thema. Ihr Vater fordert wie viele Inder die Todesstrafe für die Täter. Seit mehr als zwei Wochen gehen Menschen auf die Straße. Doch die Vergewaltigungswelle geht unvermindert weiter. Jeden Tag berichten die Medien über neue Taten: über die Zweijährige, die zu Tode vergewaltigt wurde; die Elfjährige, über die ein Mann herfiel; das Mädchen, das erst von einer Gruppe vergewaltigt und dann angezündet wurde.

Jahrelang hat das Land weggeschaut, diese täglichen „Randnotizen“ ignoriert. Auch die Politik behandelte Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt. Selbst in den Parlamenten sitzen Politiker, gegen die wegen sexueller Gewalt oder Mordes ermittelt wird. Doch nun tut sich etwas. Erstmals stehen Menschen auf. Angeführt werden die Proteste von Studenten, von der Mittelschicht, doch inzwischen sind Frauen und Männer aus allen Schichten und allen Altersgruppen dabei. Sogar in Nepal, Bangladesh und Pakistan, wo Frauen ähnliches Leid erfahren, gab es kleine Kundgebungen.

Die Todesstrafe wird nur selten vollstreckt

Auf einmal überschlagen sich auch die Parteien mit Vorschlägen, wie man die Gewalt gegen Frauen eindämmen könnte. Viele Ideen sind eher populistisch als hilfreich, wie etwa die chemische Kastration von Tätern. Doch immerhin hat die Regierung nun Schnellgerichte eingesetzt, damit Vergewaltigungsfälle nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden. Das ist ein erster Schritt. Die Polizei strebt die Höchststrafe für die Mörder der 23-Jährigen an. Allerdings wird die Todesstrafe in Indien äußerst selten tatsächlich vollstreckt. Auch wenn die sechs Täter schnell verurteilt werden – bisher kommen die meisten Vergewaltiger ungeschoren davon. Gewalt gegen Frauen ist Alltag, Gruppenvergewaltigungen sind beliebt. Weite Teile der indischen Gesellschaft sind von einem mittelalterlichen Frauenbild geprägt.

Ähnlich wie in Pakistan oder Afghanistan werden nicht die Täter, sondern die Opfer an den Pranger gestellt. Im Jahr 2011 wurden nach offiziellen Zahlen 24 206 Vergewaltigungen in Indien registriert. Doch dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer 100-mal höher sein könnte. So werden die meisten Vergewaltigungen nie angezeigt. Richter verdonnern Opfer dazu, ihre Vergewaltiger zu heiraten. Oft weigert sich die Polizei von vornherein, eine Anzeige aufzunehmen. Oder die Täter setzen die Opfer unter Druck. In Jaipur zum Beispiel liegt eine Elfjährige, die im August von sechs Männern einen Tag lang vergewaltigt wurde, nach 14 Operationen noch immer im Krankenhaus. Ihre Familie wird bedroht. „Sie sagen: Ihr seid arm, ihr habt keine Chance”, erzählt die Schwester des Mädchens. „Nehmt Geld und zieht die Anzeige zurück.”

Täter werden geschützt, Opfer gedemütigt

Selbst wenn die Opfer den Gang zur Polizei wagen, gerät ihre Aussage durch medizinische Tests schnell zur Demütigung. So wird bis heute der sogenannte Fingertest praktiziert. Dabei schieben die Ärzte dem Opfer zwei Finger in die Vagina, um festzustellen, wie weit diese ist. Dies soll Auskunft darüber geben, ob das Opfer „an Sex gewohnt” ist. Der „Fingertest” wird bis heute als Beweis anerkannt und von Anwälten benutzt, um Frauen als „Flittchen“ zu diskreditieren.

Die wenigen Fälle, die es vor Gericht schaffen, ziehen sich oft über Jahre hin – bis die Opfer zermürbt aufgeben. Die meisten Angeklagten werden freigesprochen. So wartet eine junge Frau aus Kerala seit mehr als einem Jahrzehnt auf ein Urteil des höchsten Gerichts. Sie war als 16-Jährige 1999 entführt und einen Monat lang von 42 Männern vergewaltigt worden, darunter mächtige Leute. „Niemand will mehr was mit uns zu tun haben“, klagt ihr Vater. „Wir werden geschnitten.”

Erst wenn Frauen ein Sohn gebären, sind sie etwas wert

Auch ist Vergewaltigung in Indien gesetzlich so definiert, dass nur die vaginale Penetration als Vergewaltigung zählt, erzwungener Oral- oder Analverkehr dagegen nicht. Vergewaltigung in der Ehe ist kein Straftatbestand, sondern Recht des Mannes. Die Regierung hat angekündigt, diese Gesetze zu verschärfen.

Aber es braucht ein Umdenken in der Gesellschaft. Indien hat mächtige Frauen hervorgebracht. Schon lange vor Deutschland hatte es mit Indira Gandhi eine Regierungschefin, heute gilt ihre Schwiegertochter Sonia Gandhi als die heimliche Regentin. Doch zugleich behandelt Indien viele seiner Frauen wie Dreck und verehrt Männer wie kleine Götter.

Jedes Jahr werden Zehntausende von Föten abgetrieben, nur weil sie weiblich sind. Jede Stunde wird eine Frau wegen der Mitgift ermordet. „Ehrenmorde“, Zwangs- und Kinderheiraten sowie Säureattacken sind verbreitet. Und erst wenn Frauen einen Sohn gebären, sind sie etwas wert.