Singen, Tanzen Farbenrausch: Das Indische Filmfest in Stuttgart zeigt in der kommenden Woche Knallbuntes, aber auch Knallhartes.

Stuttgart - Manchmal muss man sich eben nach den Leuten richten. „Bollywood and beyond“ hieß Stuttgarts indisches Filmfestival bisher. So sagte aber kein Mensch dazu, und auch in der Berichterstattung war das ein etwas sperriger Begriff. Die Organisatoren vom Filmbüro Baden-Württemberg haben also für die neunte Auflage, die am kommenden Mittwoch um 20 Uhr mit Mangesh Hadawales Spielfilm „Dekh Indian Circus“ anhebt, einen schlichteren, griffigeren, auch den Standort betonenden Namen gewählt: „Indisches Filmfestival Stuttgart“ heißt das Ereignis nun. Es trägt „Bollywood and beyond“ aber weiterhin als Untertitel.

 

Singen, Tanzen, Farbenrausch und Liebeswirren sind eben nicht alles, was Festivalchef Oliver Mahn und sein Team anbieten wollen, auch wenn das Schmacht- und Prachtkino seinen Platz im Programm hat und immer noch das Erste ist, was uns hierzulande einfällt, wenn wir an Indiens Filmschaffen denken. Das aber weitet an den Rändern seine Grenzen, Themen und Formsprache beständig aus und mutiert dabei auch im Inneren, im Mainstream der  Masala-Schnulzen, fortwährend, auch wenn das manchmal auf den ersten Blick nur kleine Veränderungen erprobter Formeln sind.

Die Tabugrenzen verschieben sich

„Delhi Belly“ (Freitag, 22.30 Uhr) von Abhinay Deo zum Beispiel hat das Grundgerüst der Kitschfilme. Ein junger Mann, Tashi, steht kurz vor der Heirat. Es geht also ums Zentralereignis der klassischen Sing- und Tanzfilmchen. Er ist sich aber gar nicht so sicher, ob er sich da mit der Richtigen lebenslang verbandeln wird – auch das ist der klassische Konflikt zwischen individuellen Gefühlen und Normanpassung.

Aber um dieses Gerüst wird hier ein so anderer Film gebaut, dass man es kaum noch erkennt, eine derbe schwarze Komödie, in der es Tashi (Imran Khan) und seine Wohngemeinschaftskumpel mit ganz und gar nicht zimperlichen Gangstern zu tun bekommen. „Delhi Belly“ leistet sich ein paar handfeste Ekelgags nach Art der immer noch angesagten amerikanischen Vulgärkomödien und verletzt auch sonst Konventionen, die dem indischen Unterhaltungskino noch immer wichtig sind. Zum Beispiel haben die Figuren hier eindeutig vorehelichen Sex, ein Umstand, der vor einigen Jahren noch die Selbstzensurschere von Produzenten oder Verleih auf den Plan gerufen hätte.

Der kleine Mann konkurriert mit globalen Konzernen

Den Eröffnungsfilm „Dekh Indian Circus“ könnte man als Mutation des Showbiz-Films sehen. Ja, hier möchten ein paar Leute die Alltagssorgen vergessen und Künstler anstaunen. Hier möchten aber auch abgearbeitete Eltern ihren Kindern eine bessere Zukunft sichern. Das Ganze spielt in einem bettelarmen, vorzüglich fotografierten ländlichen Indien, das mehr ist als Kulisse. Es wird tatsächlich eine der Hauptfiguren des Films.

Der Zirkus, der in dieses Hinterland kommt, ist ein absichtlich fragwürdiges Symbol für den Aufbruch der Abgehängten in die Moderne. Der Zirkus ist eine Manipulationsmaschine, mit deren Hilfe die Politiker das Volk einlullen möchten. Mit den Mitteln der Provinz- und Familienkomödie wird hier das Klassensystem Indiens vorgeführt und das Chancengefälle angeprangert.

Verständnis ist besser als Staunen

Auch dieses Jahr zeigt das Indische Filmfestival Stuttgart über dieses Unterhaltungskino hinaus Dokumentationen und Spielfilme, die gesellschaftliche gar nicht erst durch die Linsen von Amüsiergenres zu filtern versuchen. Micha X. Peleds Dokumentarfilm „Bitter Seeds“ (Donnerstag, 11.30 und 20 Uhr) rückt wie „Dekh Indian Circus“ die armen Bauern in den Mittelpunkt. Aber hier spüren wir eine viel größere Trostlosigkeit, hier wird uns klar, warum täglich fast 50 Kleinbauern in Indien Selbstmord begehen. Ram Krishna, den Peled in seinem Alltag beobachtet, tritt nicht mehr nur gegen die Natur an. Der kleine Mann konkurriert mit globalen Konzernen, die es ernst damit meinen, Produzenten wie ihn vom Markt zu drängen.

Kaschmir ist einer der Dauerkrisenherde Indiens. Es gibt einige Militärfilme, die den heldenhaften Einsatz der Streitkräfte gegen Separatisten, Terroristen und pakistanische Aggressoren feiern. Die Dokumentation „Broken Memory, shining Dust“ (Samstag, 22 Uhr) ist weit weg von martialischem Klimbim. Sie zeigt Frauen, die in Kaschmir Angehörige verloren, aber zum Teil seit Jahrzehnten keine Gewissheit über ihr Schicksal haben. Diese Hinterbliebenen der Verschwundenen haben nicht einmal offizielle Rituale des Trauerns, denn offiziell befinden sie sich im Wartezustand auf die Wiederkehr. „Broken Memory, shining Dust“ zeigt ein gespenstisches Dulden in einer unsicheren Gegend, einen Alltag, der überhaupt nicht den Werbebildern der voranstürmenden Wirtschaftsmacht Indien entspricht. Diesem Festival ist Verständnis lieber als Staunen.