Manche Eltern haben zu hohe Erwartungen an die Fördermöglichkeiten der Schule, meint der Tübinger Erziehungsexperte Thorsten Bohl. Zudem sei das Ziel der individuellen Förderung sehr aufwendig.

Stuttgart - Manche Eltern haben zu hohe Erwartungen an die Fördermöglichkeiten der Schule, meint der Tübinger Erziehungsexperte Thorsten Bohl. Er ist seit dem Wintersemester 2007/2008 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Tübingen. Die Forschungsinteressen des Experten für die Gemeinschaftsschule sind vor allem im Bereich der Unterrichts- und Schulforschung angesiedelt.

 
Herr Bohl, die individuelle Förderung gilt als das A und O des modernen Unterrichts. Ist sie das Allheilmittel im Umgang mit Heterogenität?
Es gibt in der Pädagogik kein Allheilmittel. Sie ist eine Möglichkeit, angemessen mit der Heterogenität umzugehen. Man muss aber die Begriffe klären. Individualisierung bedeutet, dass man im Unterricht wirklich das einzelne Kind berücksichtigt. Das ist konsequenter, als nur zu differenzieren. Man muss sich überlegen, welche Aufgaben man einzelnen Schülern gibt, und man muss die individuelle Entwicklung kontinuierlich im Blick haben. Das ist pädagogisch anspruchsvoll und sehr aufwendig.
Thorsten Bohl Foto: privat
Gibt es auch andere Möglichkeiten?
Ja, durchaus. Zum Beispiel über adaptiven Unterricht. Die Lehrer arbeiten dabei mit flexiblen und variablen Methoden und steuern den Unterricht enger. Sie stellen aber nicht jedem einzelnen Schüler individuelle Aufgaben, sondern planen für Gruppen von Schülern. Sie legen ein oberes Leistungslimit und ein Minimum fest, das alle am Ende der Unterrichtseinheit beherrschen sollten. Eine andere Konzeption wäre das kooperative Lernen. Dabei werden zu Beginn des Schuljahres heterogene Gruppen gebildet, die ein ganzes Schuljahr in allen Fächern eng zusammenarbeiten und Aufgaben gemeinsam lösen.
Wird zu viel von der individuellen Förderung erwartet? Wird sie ideologisch überhöht?
Ideologie ist nicht das Thema. Ich glaube dass gelegentlich die Sachlage falsch eingeschätzt wird. Wenn man Individualisierung konsequent umsetzt, ist sie sehr anspruchsvoll und voraussetzungsreich. Es kann nicht ein einzelner Lehrer sagen: Ich mach’ jetzt Individualisierung. Das sollte im Team und als Schulkonzeption vorangebracht werden. Man muss die Arbeit in der Schule Stück für Stück auf Individualisierung umstellen. Man muss überlegen, wie man Kompetenzpläne organisiert, wie man vielfältige und gute Aufgaben zur Verfügung stellt oder wie man individuell berät und unterstützt.
Ist Individualisierung an jeder Schule möglich?
Nicht von jetzt auf nachher. Das ist der Knackpunkt der derzeitigen Schulsystementwicklung in Baden-Württemberg. Manche Schulen sind so weit, dort wollen alle Lehrer die Umstellung. Andere brauchen vielleicht noch einige Jahre.
Was sind die Mindestvoraussetzungen?
Die Mindestvoraussetzung ist, dass das Kollegium das machen möchte. Wer Individualisierung unter Zwang vorschreiben will, wird scheitern. Mit großen Klassen ist es natürlich schwieriger. Man braucht bestimmte Bedingungen, auch räumlicher Art. Genaue Angaben sind schwierig, viele Schulen fangen durch erhöhtes Engagement immens vieles auf. Andere sagen, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, machen wir das nicht.
Gibt es Grenzen der Individualisierung?
Die Individualisierung klappt dann sehr gut, wenn die Schüler in hohem Maße selbstständig arbeiten können. Bei der Individualisierung gibt es nicht mehr eine Aufgabe für alle. Die Schüler müssen in der Lage sein, die Aufgabe selbstständig zu lösen, mit Unterstützung, auch mit gutem Material. Wenn das nicht gelingt, werden vor allem die Leistungsschwächeren scheitern.
Wird es je eine Schule geben, die ausschließlich auf Individualisierung setzt?
Nein. Auch Gemeinschaftsschulen, die deutlich auf Individualisierung setzen, werden das vor allem in den Kernfächern tun. Zwischendurch gibt es Plenumsphasen und Gruppenarbeit. Ich halte es nicht für möglich und auch nicht für sinnvoll, hundertprozentig auf Individualisierung zu setzen.
Weckt der Wegfall der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung falsche Erwartungen der Eltern an die Fördermöglichkeiten in der Schule?
Ja, das würde ich schon sagen. Durch den Wegfall der Verbindlichkeit hat sich die Heterogenität an Realschulen und an Gymnasien, insbesondere G9-Gymnasien, noch einmal deutlich erhöht. Die Frage ist dann, mit wie viel Heterogenität kann und will eine Schule arbeiten, da sind vielerorts veränderte Konzeptionen notwendig.
Kann man von einer Schule erwarten, dass sie mit allen Mitteln den Elternwunsch erfüllt?
Jeder Lehrer ist darauf ausgerichtet, seine Schüler bestmöglich zu unterstützen. Die Abschaffung der Grundschulempfehlung passt aber einfach nicht zu einem mehrgliedrigen Schulsystem. Wir haben mehr Schularten als noch vor zwei Jahren. Dann kracht es natürlich im System. Das lässt sich nicht alles durch einzelne Lehrer oder Schulen auffangen.
Es scheint ja doch Grenzen der Förderung zu geben. Muss man dennoch das Sitzenbleiben abschaffen und Schulwechsel ausschließen?
Natürlich gibt es Grenzen. Nicht jeder Schüler erreicht das Abitur. Dann muss man schon überlegen, ob jeder Schüler am Gymnasium gut aufgehoben ist. An einer Gemeinschaftsschule sieht das anders aus. Sie ist eine inklusive Schule und strukturell auf jeden Abschluss vorbereitet. Sie muss durch individuelle Förderung in der Lage sein, mit allen Schülern und dem gesamten Spektrum unterschiedlicher Voraussetzungen umzugehen. Dort kann man das Sitzenbleiben abschaffen. Ansonsten muss man klären, ob es dem Kind gut geht und ob es gefördert werden kann. Sitzenbleiben ist eine Möglichkeit, mit der unklaren Übergangssituation umzugehen.