Sind wir zu viel online? Schadet das unseren sozialen Beziehungen? Solche Fragen werden dieser Tage häufig gestellt. Ungewöhnlich ist aber, dass sich immer mehr Informatiker darüber Gedanken machen. Sie fragen sich, wie uns Smartphones helfen können, uns wieder mehr im realen Leben zu treffen.
Stuttgart - Die Mail des Informatik-Professors ist ungewöhnlich: „Über dieses Thema habe ich in letzter Zeit vermehrt nachgedacht“, schreibt er an die Journalistin, „vielleicht können wir uns darüber mal unterhalten.“ Er schickt einen Internetlink. Der führt zum Tagebuch von Rachel Stafford, einer jungen Mutter aus Alabama. Unter der Überschrift „Wie man eine Kindheit verpasst“ schildert die Frau, wie sie mit ihrem Smartphone jahrelang in sozialen Netzwerken chattete, Mails beantwortete, Videos schaute – und dabei das richtige Leben verpasste. Erlebnisse mit ihrer Tochter beispielsweise. Sie wolle diese „schmerzhafte Wahrheit“ teilen, um anderen Eltern eine solche Erfahrung zu ersparen.
Vor den Folgen einer ständigen Online-Präsenz zu warnen, gehört heutzutage schon fast zum guten Ton. Ungewöhnlich ist es, wenn Informatiker darauf verweisen. „Ich bin mir sicher, dass die richtige Anwendung von Technologie sinnvoll ist“, schränkt Albrecht Schmidt, Professor für Mensch-Maschine-Interaktion an der Uni Stuttgart, dann auch ein. Doch was ist sinnvoll? „Wir haben entdeckt, dass die Menschen eventuell etwas mehr Zeit online verbringen, als ihnen gut tut“, sagt Nemanja Memarovic, Informatiker an der Universität Zürich. Er beobachte, dass immer häufiger Freunde zwar beieinander sitzen, aber nicht miteinander reden, weil jeder mit seinem Smartphone beschäftigt ist. Deshalb organisiert er mit Kollegen weltweit Konferenzen, auf denen sich Informatiker darüber austauschen, wie sie persönliche Kontakte zwischen den Menschen fördern können. Ein neuer Forschungszweig ist so entstanden: Er beschäftigt sich mit der Frage der Computer-gestützten sozialen Interaktion.
Wie verändert das Internet die Beziehungen der Menschen? Die US-amerikanische Soziologin Sherry Turkle schreibt in ihrem Buch „Verloren unter 100 Freunden“, das unter Informatikern kontrovers diskutiert wird, dass Technologie und soziale Netzwerke zunehmend echte persönliche Beziehungen ersetzten. Auffällig, dass diese These ausgerechnet aus dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) kommt, wo an den Technologien von Morgen geforscht wird. Turkle ist dort Professorin für Technologie und Gesellschaft, sie bezeichnet sich durchaus als technologiebegeistert – aber die aktuelle Entwicklung erschreckt sie: So hat sie Jugendliche interviewt, die lieber mit einem Programm kommunizieren, das auf Künstlicher Intelligenz beruht, statt mit ihrem Vater. Die Software habe doch eine viel größere Datenbasis als der Senior, argumentieren sie. Turkle traf Studenten, deren sehnlichster Wunsch es ist, mit der Sprachsteuerung ihres iPhones endlich wie mit einem guten Freund reden zu können: einer, der immer zuhört. Noch ist klar, dass man mit einer Maschine spricht. Aber eines Tages wird die automatische Sprachverarbeitung so gut sein, dass der Unterschied zu einem Menschen kaum auffällt. Die Technologie mache andere Wesen aus uns, warnt Turkle.
Es ist nicht die Technologie, sondern die Art, wie wir sie nutzen
Dieser These widerspricht Geraldine Fitzpatrick, Professorin für Mensch-Maschine-Interaktion an der Technischen Universität Wien: „Es ist nicht die Technologie, sondern die Art, wie wir sie nutzen.“ Und das können wir selbst bestimmen – vielleicht mit etwas Unterstützung. Fitzpatrick möchte den Menschen aber nicht vorgeben, wie viel Zeit sie offline verbringen sollen. „Für uns als Informatiker ist es wichtig zu erforschen, wie wir die Technologie ändern oder ergänzen können, damit die Menschen mehr persönliche Kontakte haben.“
Gleichzeitig sei es aber eine alte Frage der Menschheit, wie Kommunikation gestaltet werde. Während früher Schwarze Bretter genutzt wurden, um den Austausch zu fördern, seien es später Diskussionsforen im Internet gewesen, die heute mehr und mehr von sozialen Netzwerken abgelöst würden.
Ihr Schweizer Kollege Nemanja Memarovic beschäftigt sich mit modernen Schwarzen Brettern: öffentliche Displays, wie sie vermehrt an Bahnhöfen zu finden sind. Gemeinsam mit Informatikern aus Stuttgart und Oulu in Finnland entwickelte er ein Programm, das den Umstehenden auf solchen elektronischen Anzeigentafeln überraschende Informationen per Zufallsgenerator präsentiert, beispielsweise „Auf Pitcairn Island leben nur fünf Mal mehr Menschen als hier heute um das Display herum stehen.“ Die Forscher beobachteten, wie wildfremde Menschen vor den Bildschirmen miteinander zu diskutieren begannen. „Das Feature wirkte als Katalysator für soziale Interaktion“, schreiben er und seine Kollegen in ihrem Forschungspapier.
Nutzer wollen auch offline interagieren
Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die Wissenschaftler Sven Gehring und Antonio Krüger vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken. Sie entwickelten ein Programm für Smartphones, mit denen Menschen Fassaden digital gestalten können, Gebäude mit einem riesigen öffentlichen Display. Dabei malen die Nutzer mit dem Finger Muster auf ihren Touchscreen, die direkt auf die Hauswand übertragen werden. Die Forscher beobachteten, wie zufällig gleichzeitig vor der Fassade aktive, einander fremde Menschen über ihr gemeinsames Kunstwerk ins Gespräch kamen: „Die Nutzer waren offen dafür, offline zu interagieren“, fassen die Forscher zusammen.
Diesen Effekt nutzen die Informatiker um Elena Mugellini von der University of Applied Science in Fribourg, um die Teilnehmer eines Computerspiels im realen Leben zusammenzubringen. Die Spieler werden dabei auf ihren Smartphones vor Aufgaben gestellt, die sie nur durch ihre persönliche Anwesenheit an einem bestimmten Ort oder durch den direkten Austausch mit anderen Spielern lösen können.
Gerade im Bereich der Computerspiele sei es wichtig, solche persönlichen Zusammentreffen zu fördern, begründen die Wissenschaftler ihre Motivation. Denn während die früheren klassischen Gesellschaftsspiele den sozialen Kontakt unterstützt hätten, bewirken Computerspiele häufig das Gegenteil: „Vorangegangene Forschungen haben ergeben, dass Videospiele Freunde ersetzen und zu sozialer Isolation führen können“, so die Schweizer Forscher.
Es deutet einiges darauf hin, dass die Informatiker mit ihrem neuen Forschungszweig auf offene Ohren in der Bevölkerung stoßen könnten. Nachdem die junge Mutter Rachel Stafford ihren Tagebucheintrag ins Netz gestellt hatte, rief sie ein Mitarbeiter ihres Internet-Anbieters an: Die Zugriffe auf ihre Seite seien enorm gestiegen – ob das alles mit rechten Dingen zugehe? Eine Flut an bestätigenden E-Mails und Kommentaren erreichte sie in den folgenden Tagen: Eltern berichteten darin, wie sie ihre Handys ausschalteten und zum ersten Mal seit langem ihren Kindern ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden ließen – und wie sie dieser nahe Kontakt innerlich erfüllte.
Spielen im realen Leben
Trend
Sogenannte „alles durchdringende Spiele“ (pervasive Games) stellen ein wachsendes Genre dar, das die sozialen Grenzen klassischer Computerspiele verschiebt. Die Teilnehmer müssen sich dabei im realen Leben treffen, um Aufgaben zu lösen.
Beispiel Das Spiel „Ingress“ von Google ist eines der bekanntesten Spiele dieser Art. Die Teilnehmer müssen sogenannte „Portale“ erobern. Das sind Orte in der analogen Welt, um deren Vorherrschaft die Spieler in zwei Gruppen gegeneinander kämpfen.