Beim diesjährigen Wettlesen in Klagenfurt waren die Scharmützel der Kritiker zuweilen unterhaltender als die Texte der Autoren. Den Ingeborg-Bachmann-Preis gewinnt am Ende ein Spaßkandidat: der schreibende Cartoonist Tex Rubinowitz

Kultur: Stefan Kister (kir)

Klagenfurt - Riesige prähistorische Spulwürmer schlängeln sich an den Wänden des ORF-Theaters in Klagenfurt entlang, in dem das jährliche Wettlesen um den Bachmann-Preis stattfindet. Ein Ausstattungseinfall von eigenartiger Originalität. Im vergangenen Jahr konnte das Aussterben des Wettbewerbs gerade noch abgewendet werden. Nun, da die Finanzierung gesichert ist, scheint man es sich in einem fossilen Nachleben gemütlich machen zu wollen.

 

Was aber werden literaturhistorische Paläontologen, die sich in fernen Tagen in den diesjährigen Wettbewerb graben, zu Tage fördern? Eher kleine Wesen, Knöchelchen, die es gilt, richtig zusammen zu legen, um eine Vorstellung jener Welt zu gewinnen, der sie entstammen: Nerze, deren geschmeidigem Raubtierrücken die Leipziger Literaturinstituts-Absolventin Kerstin Preiwuß die Last der deutschen Kriegsverbrechen aufbürdet, sie ihres symbolischen Balgs dann aber wieder so gründlich entkleidet, bis man die nackte und blutige Bedeutung ratlos in Händen hält. Oder eine Katze namens Edgar, die in Roman Marchels Erzählung durch die Fluchten der Zeit streicht, bis eine alte Frau das Kissen zückt, um ihren kranken Mann zu erlösen. Oder ein Liebespaar, das sich in einem Romanauszug von Olga Flor durch die Hintertür in die deutsch-französische Geschichte kopuliert und damit gleich zwei beliebte Themenkreise, Kriegsgräuel-Reminiszenzen und Zweierbeziehungs-Schlachten, auf so banale wie anale Weise engführt.

Burkhard Spinnen verkündet seinen Rückzug

Doch zunächst kommt die Sintflut. Am Eröffnungsabend regnet es in Strömen, als gelte es jene Referentenprosa wegzuspülen, mit der würdige Würdenträger und generöse Sponsoren sich zur Schutzbedürftigkeit der Gattung Literatur bekennen, unter reichlicher Zuhilfenahme von „Bachmann-Sprüchen“, deren zumutbare Wahrheit mittlerweile Gut-Willens-Äußerungen aller Art garniert. Das gehört zum Ritual wie jener wackere Magister Kammerer, der wohltituliert darüber wacht, dass alles seine Ordnung hat – und doch ist die ermüdende Übung bemerkenswert: Wenn es in Klagenfurt um etwas geht, dann doch darum, die hohle Phrase vom erfüllten Satz zu scheiden.

Dies ist Sache der Jury. Seit einer gefühlten Unendlichkeit sitzt ihr der Kritiker und Autor Burkhard Spinnen vor kraft seiner ans Saurierhafte grenzenden Wortgewalt, die er gleichwohl mit der Wendigkeit eines Urpferdchen zu handhaben weiß. Wegen dieser – trotz einer gewissen Vergaloppierungsbereitschaft – kostbaren Kombination vernimmt man mit leiser Wehmut, dass sich Spinnen nach sechzehn Jahren aus dem Gremium zurückzieht. Eine Ära verbaler Improvisationskunst geht damit zu Ende. Wer ihm nachfolgen könnte, ist so offen wie die Frage, wer darüber entscheidet. Die Berufung der Juroren ist eines der letzten Geheimnisse des Literaturbetriebs.

Die Regeln sind simpel: Wer überlebt, bekommt einen Preis

Dafür sind die Regeln des Spektakels selbst denkbar einfach. Jeder der sieben Juroren benennt zwei Kandidaten. Sie wiederum lesen um ihr literarisches Leben und werden anschließend viviseziert – wer überlebt, bekommt einen Preis. Eine Mischung aus Märchenstunde und Stierkampf also, in diesem Jahr noch um ein Konfliktpotenzial reicher: den neu in den Jurorenkreis gestoßenen Wiener Literaturprofessors Arno Dusini, der mit staunenswerter Zuverlässigkeit unverständliche Dinge von sich gibt und sich folgerichtig schlecht verstanden fühlt, insbesondere von seinem Kollegen, dem Kritiker Hubert Winkels. Während dieser mit der Geschicklichkeit eines postmodernen Hütchenspielers Welt, Menschen, Dinge im souveränen Spiel der Zeichen verschwinden lässt, durchpflügt jener die Texte mit staubtrockener Beharrlichkeit, um noch nebensächlichsten Partikeln die Herkunft aus dem einen großen Urstrom der Tradition nachzuweisen.

Womit wir wieder bei den Autoren wären. Die Hamburgerin Karen Köhler wurde just am Tag der Eröffnung vom Ausbruch der Windpocken ereilt und an der Reise nach Klagenfurt gehindert. Und so sehr die Juroren den Gegenwartsreflex digitaler Medien in analog verfassten Texten schätzen, so strikt wird der Klagenfurter Standard realer Präsenz gegen jegliches virtuelle Äquivalent verteidigt. Die Statuten schreiben eine körperliche Anwesenheit vor, kein Double, kein Skype, keine Köhler. Ihre munter-sentimentale Krankenhauserzählung über eine Freundschaft unter Todgeweihten wurde außerhalb des Wettbewerbs unter anderem vom Hanser-Chef Jo Lendle verlesen. Merkwürdig kontrastiert dabei das schnittige Erzähldesign mit den verschnittenen Leibern der Protagonisten. Für einen Nebenpreis hätte es wohl gereicht. Verkaufen wird sich das auch so, richtig glücklich macht es nicht.

Irgendwann reibt man sich erschöpft die Augen

Letzteres gilt in diesem 38. Jahr des Wettbewerbs für eine ganze Reihe von Beiträgen, von denen man sich ersteres wiederum kaum vorstellen kann. Der eine vertextet seine Steuerprobleme, die andere ihren Trauertrip, hier strandet eine Frau mit Kuhnamen auf einem Alpenpass, dort werden „Millefleurs“ verhießen, aber nur tausend Stilblüten kultiviert. Man reibt sich irgendwann erschöpft die Augen und wünscht sich in die WM-Fanmeile in der Innenstadt. Ein Tor würde dem Wettbewerb guttun, wird in der Lese-Halbzeit getwittert. Wie haben diese Texte es hierher geschafft? Sie wurden ausgewählt – wodurch die Frage nach der Besetzung der Jury insgeheim an Brisanz gewinnt.

Literatur ist auch eine Frage des Vertrauens. Wieviel man davon Anne-Kathrin Heiers opak berauschter Großstadtstudie zu zollen bereit ist, hängt an Details wie einem zerknitterten Zeigefinger. Können Finger knittern? Wenn nicht, gleitet möglicherweise auch die Normalität nicht im weißen Elfenkleid von Wand zu Wand. Einige Texte bedienen geschickt ein literaturpolitisches Reiz-Reaktions-Schema: Face-Book-Gegenwärtigkeit und modernes Nomadentum. Der in Sri Lanka geborene und in Berlin lebende Senthuran Varatharajah führt beides zusammen und erhält dafür den 3-Sat-Preis. Ob sein platonischer Chat über den Migrationshintergrund der zeitgenössischen Seele mehr ist als eine willkommene Diskussionsgrundlage für Kritikerdialoge, wird man erst beurteilen können, wenn er sich zum Roman ausgewachsen hat.

Hübsche Geschichte, aber war das alles?

Immer bedeutender wird der Vortrag. Wegen einer Sehschwäche perforiert der Schweizer Michael Fehr sein wuchtiges Volkston-Fake auf der Bühne hin und her laufend. Katharina Gericke berlinert sympathisch ihre Prosaballade über Moabiter Liebesleid – und Gertraud Klemm schimpft sich in ihrer furiosen Mutterschaftsverneinung ohne Punkt und Komma über alle Peinlichkeitsabgründe hinweg, was ihr den Publikumspreis einbringt. Hübsche Geschichten, aber war das alles? Nicht ganz.

Den Cartoonisten Tex Rubinowitz hätte man eigentlich für den diesjährigen Spaßkandidaten gehalten, nicht für den Bachmann-Preisträger. Jetzt ist er beides. Gelassen unterläuft er die kunstgerechten Standards, mit denen die anderen klappern, nuschelt in rasendem Tempo lustige Erinnerungen an eine Amour fou dahin und lacht sich im Stillen vermutlich einen Ast über die Deutungshöhenflüge, die er damit auslöst. Facebook und litauische Herkunft spielen darin auch eine Rolle, aber eher so, dass man das Gefühl nicht los wird, man habe hier eine Satire ausgezeichnet auf alles, was in Klagenfurt sonst in Geltung steht. Sei‘s drum. Es war der beste Text eines allerdings mittelmäßigen Jahrgangs.