Sie schreibt Gedichte und Bekennerschreiben – und gehört zur ersten Generation der RAF. Dennoch ist nur wenig bekannt über die Zeit, bevor Gudrun Ensslin, die Studentin der Germanistik, zu einer der meistgesuchten Terroristinnen Deutschlands wird. Der Autorin Ingeborg Gleichauf hat das keine Ruhe gelassen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Freiburg - Kann das wirklich sein? Ja. Und soll das so bleiben? Ingeborg Gleichauf fragt sich das so lange, bis sie sich entscheidet, die Wissenslücke zu schließen. Denn aus Sicht der erfahrenen Biografin ist Gudrun Ensslin ein zu Unrecht noch immer unbeschriebenes Blatt. Was man über eine der Exponentinnen der Baader-Meinhof-Gruppe weiß und bislang auch wohl wissen mochte, ist in den Prozessakten und in einigen Filmen festgehalten. Viel Kriminalistisches das eine, jede Menge Deutung das andere. Dabei hat Ensslin, eine der Hauptfiguren des sogenannten Deutschen Herbstes im Jahr 1977 jede Menge schriftliche Spuren hinterlassen – und damit eine Fülle von Selbstauskünften.

 

Wer also war Gudrun Ensslin? Wie wurde sie zu einer Ikone der Rote Armee Fraktion, die am 18. Oktober 1977 nach der gescheiterten Entführung und der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim gemeinsam mit Andreas Baader und Jan-Carl Raspe Selbstmord beging? Ingeborg Gleichauf, 63, geboren im Schwarzwald, seit Beginn ihres Studiums in Freiburg lebend, Mutter von drei erwachsenen Töchtern, will nicht in den Kopf, warum das Leben der Frau so unscharf geblieben ist.

Sie will Ensslins Biografie nicht entpolitisieren und auch nicht verklären, eher vervollständigen. Und verstehen, warum eine Vertreterin der Studentenbewegung, den Weg in die Gewalt gewählt hat. Für sie ist der Fall nicht abgeschlossen, auch wenn die Akte geschlossen ist. „Gudrun Ensslin hatte ein Leben, das nicht erst bei den Frankfurter Kaufhausbränden im April 1968 oder in Stammheim angefangen hat“, sagt Gleichauf trotzig. Sie will dieses Leben vom Anfang her denken, nicht von seinem grausamen Ende aus. „Gewalt und Poesie“ ist der Titel ihrer Biografie, die dieser Tage beim Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag erscheint.

„Ich wollte auch die Frauenperspektive ins Spiel bringen“

Ist es ein Zufall, dass die Standardwerke zur RAF-Geschichte allesamt von Männern geschrieben sind? Von Stefan Aust, Butz Peters oder Wolfgang Kraushaar beispielsweise „Ich wollte schon auch die Frauenperspektive ins Spiel bringen“, sagt Gleichauf. Nach einer zehnjährigen Familienphase hat sie im Alter von 40 Jahren über Ingeborg Bachmann promoviert, unter anderem Biografien über Simone de Beauvoir und Hannah Arendt verfasst. Frauen in Extremsituationen interessieren sie mehr, als dass sie sie schockieren. Ihr Bild von Gudrun Ensslin ist schon vor der Recherchereise das einer aufgeschlossenen jungen Frau, die gebrochen endet.

Ihre Spurensuche beginnt 2014 in Bartholomä auf der Schwäbischen Alb. Der Anfang ist schon mal viel versprechend. Gleichauf geht aufs Rathaus, weil in einer kleinen Gemeinde mit 2000 Einwohnern dort alle Fäden zusammenlaufen. Jedenfalls hofft sie das. Und schon bei der ersten zufälligen Begegnung trifft sie auf einem jungen Mann, der sich daran erinnert, dass Gudrun Ensslins Vater Helmut, der von 1936 bis 1948 Pfarrer am Ort war, immer wieder seine Großeltern besucht hat. Und dass es auch Bilder aus dieser Zeit gebe.

Bartholomä ist der Ort, in dem Gudrun Ensslin 1940 geboren wird, wo sie einen Teil ihrer Kindheit verbringt. Es ist das Dorf, in dem die spätere Terroristin der ersten RAF-Generation noch Kind ist. Wo sie noch nicht die Staatsfeindin, nicht die Klamottenfetischistin ist, zu der manche sie machen. Nicht die Komplizin und Gespielin von Andreas Baader und auch nicht die Frau, die in gestanzt-entindividualisierter Sprache und vom Hungerstreik gezeichnet vor Gericht im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim ihre Erklärungen verliest.

Ein fröhliches Mädchen

Bartholomä also. Acht Jahre lange lebten die Ensslins mit ihren Kindern hier, im Januar 1942 wird Helmut Ensslin eingezogen. „Sie war Kriegskind, Pastorenkind und Dorfkind“, sagt Gleichauf, wenn sie sich Ensslin in Grundschultagen vor Augen führt. Die Menschen erinnern sich an ein fröhliches und zugewandtes Mädchen. Nach dem Krieg wird der Vater Pfarrer an der Tuttlinger Stadtkirche, die Familie zieht um. Auch in Tuttlingen führt Gleichauf viele Kaffeegespräche, wie sie es nennt, wenn Weggefährten Ensslins ihr freimütig erzählen. Wieder hört sie: Das fröhlichste aller Ensslin-Kinder sei Gudrun gewesen. Gleichauf weiß, sie muss Menschen zum Reden bringen und Schriftstücke sprechen lassen, wenn sie sich der Frau und ihrem bisher wenig greifbaren Leben nähern will. Die Eltern Ensslin sind tot. Die Schwestern und der Sohn Ensslins haben signalisiert, sie wollen sich nicht äußern. „Das kann ich auch verstehen“, sagt Gleichauf.

Sie will sich davon aber nicht bremsen lassen. Sie will bei aller Fremdheit dieses Lebens auch eine Nähe zu Gudrun Ensslin herstellen. „Ihr Verhältnis zur Sprache ist der Schlüssel zu ihrer Persönlichkeit“, davon ist Gleichauf nach dem Studium der Texte überzeugt. Die Quellenlage ist gut: Ensslin schreibt Gedichte und Reiseberichte, wie sie eben später auch Bekennerschreiben verfasst. Ein Großteil der Gedichte befindet sich jedoch zum Kummer der Biografin wohl unzugänglich in Familienbesitz. Schon die Briefe Ensslins über ihre Lyrikversuche lassen Gleichauf einen literarischen Schatz ahnen.

Vieles im Leben der Porträtierten und der Biografin ist ähnlich verlaufen. Das Nachdenken über soziale Ungleichheiten auf der Welt und der Glaube an die Macht des Wortes etwa. Das erklärt vielleicht die Akribie, mit der Gleichauf vorgeht. Sie will bis zur Abzweigung zur Gewalt den Verlauf dieses Lebens nachvollziehen können. „Es hat immer wieder Momente gegeben, da hätte Gudrun Ensslin anders entscheiden können“, sagt sie. Gegen die Gewalt. Aber sie habe sich für die Gewalt entschieden, „Theorie ohne Praxis scheint ihr nun sinnlos“, schreibt Gleichauf über die Zeit nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967, in der Ensslin Andreas Baader kennenlernt. „Ich möchte zeigen, wie furchtbar und fremd die späte Phase im Vergleich zu dem ist, was hätte sein können“, sagt Ingeborg Gleichauf.

Im Elternhaus verkehren Persönlichkeiten wie Heinemann und Niemöller

Denn die Voraussetzungen für ein Leben als kritische Begleiterin des Zeitgeschehens sind gut im Ensslin’schen Elterhaus. Im der Tuttlinger Zeit verkehren Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller dort. Wie der Vater sind sie Gegner der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. In der Nazi-Zeit war Helmut Ensslin auf Seiten der Bekennenden Kirche. Dennoch heftet Ensslin die Herkunft aus dem protestantischen Elternhaus und die damit für viele einhergehende Enge als besonderer Makel an. „Das macht die Fallhöhe größer“, sagt Gleichauf.

Für die Jugendlichen ist das Café Schlack der Treffpunkt in Tuttlingen. Es gibt Unmengen Fotos aus der Zeit. Gleichaufs Resümee: „Was für eine quirlige lebendige Person sie war.“ Der Komponist Helmut Lachenmann, der Bruder von Gudruns Freundin Elisabeth, erinnert sich an ein gar nicht verdruckstes Mädchen. Hin und wieder machen sie zusammen mit den Erwachsenen Hausmusik – Gudrun an der Geige. Am Königin-Katharina-Stift in Stuttgart, wo sie 1960 nach dem Umzug nach Bad Cannstatt Abitur macht, spielt sie im Orchester. Noch als sie in Haft ist, spielt sie regelmäßig, sie lässt sich Bücher von Ezra Pound, Herman Melvilles „Moby Dick“, Krimis von Richard Starks bringen.

Vorher aber studiert sie in Tübingen, Schwäbisch Gmünd und beginnt die Promotion in Germanistik in Berlin. Die Förderung durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes bekommt sie erst im dritten Anlauf. Hätte sie 1967 nicht Andreas Baader getroffen, vieles wäre anders gekommen, ist Gleichauf überzeugt. „Er hat eine Stelle ausgefüllt, die sie ohne ihn nicht ausgefüllt hätte.“ Er führt das Denken ins Handeln über. Eine unheilige Allianz in bewegten Zeiten? Ensslin war bereit, die Welt umzukrempeln – auch durch die Texte Hans Henny Jahnns, dessen Credo es war, der Mensch müsse verändert werden. Gleichauf findet diese wachsende Bereitschaft in Ensslins Texten.

Kein Zurück ins bürgerliche Leben

Zunächst vertraut sie offenbar lange ganz altmodisch auf die Macht des Wortes. Aber im April 1968 folgt die Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus, die Verhaftung, Untersuchungshaft, eine Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis – mit vorzeitiger Entlassung. In ihrem Geständnis sagt Ensslin, es sei nicht um brennende Matratzen, sondern um brennende vietnamesische Kinder gegangen. Als Baader wieder einfährt, sind sie und Ulrike Meinhof an seiner Befreiung beteiligt. Nun gibt es keine Rückkehr mehr in ein bürgerliches Leben und zu ihrem kleinen Sohn und dessen Vater Bernward Vesper. Stattdessen lässt sie sie sich in Jordanien zur Guerillakämpferin ausbilden, verübt Anschläge auf US-Kasernen. Menschen sterben. Im Sommer 1972 werden erst Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Ulrike Meinhof verhaftet. Wenig später auch Gudrun Ensslin.

Am Ende ihres Weges in die Gewalt gehen Ensslin die Worte aus. Aus dem Ich ist das Wir des Kollektivs der in Stammheim lebenslänglich einsitzenden Terroristen geworden. „Ensslin hätte Schriftstellerin oder Journalistin werden können. Sie hatte so ein Sensorium für Literatur“, sagt Gleichauf und wagt eine mutige Einschätzung: Wenn sie gleich nach dem Abitur gefördert worden wäre, wenn jemand mit ihr gesprochen hätte, wäre ihr Leben anders verlaufen. Weg von der Gewalt.