Bei der Vielseits GmbH in Obertürkheim finden Frauen Hilfe, die nach extremer Gewalt traumatisiert sind und deren Persönlichkeit sich aufgespalten hat.

Obertürkheim - Täglich zur Arbeit gehen, Aufgaben erledigen und Termine einhalten – das gehört für die meisten Menschen zum Alltag. Aber was, wenn eine Person eine Handlung gar nicht zu Ende führen kann, weil plötzlich eine andere Teilpersönlichkeit in ihrem Gehirn das Ruder übernimmt? Was für viele unvorstellbar klingen mag, ist für die zehn Teilnehmerinnen der Einrichtung Vielseits in Obertürkheim traurige Realität. Denn sie haben in ihrem Leben eine so massive Gewalt erlebt, dass sich ihre Persönlichkeit in eine multiple Persönlichkeit gespalten hat. Ein normaler Alltag ist für die Frauen deshalb kaum vorstellbar.

 

Um diesen Frauen zu helfen, haben die Psychotherapeutin Gaby Breitenbach und die Fachkrankenschwester Daniela Ziegler im Januar 2014 die geschützte Tageseinrichtung Vielseits eröffnet. Dort sollen Opfer extremer Gewalt dabei unterstützt werden, ihren Alltag so gut wie möglich selbstbestimmt gestalten zu lernen. Doch das ist alles andere als einfach.

Eine Person kann mehr als 100 Teilpersönlichkeiten haben

„Wir haben es mit Menschen zu tun, die bisweilen mehr als 100 Teilidentitäten aufweisen können“, erklärt Einrichtungsleiterin Daniela Ziegler. „Wenn man also Dinge besprechen möchte, neues Lernen ermöglichen will, dann dauert das seine Zeit, weil es nicht ausreicht, nur eine Persönlichkeit zu erreichen.“

Schon kleinste Aufgaben könnten Probleme verursachen, ergänzt Gaby Breitenbach. „Stellen Sie sich vor, eine zehnköpfige Familie arbeitet an einem Projekt, aber alle unabhängig voneinander“, sagt Breitenbach. „Nachher weiß niemand mehr, welche Teilaufgaben von anderen schon erledigt wurden. Für das, was die anderen getan haben, fehlt die Erinnerung und die damit verbrachte Zeit.“

Probleme im Beruf und bei der Partnerwahl

Wechsel zwischen den Teilpersönlichkeiten – sogenannte Switches – könnten dazu beitragen, dass eine Persönlichkeit eine Tätigkeit beginnt, eine andere davon aber nichts weiß und die Aufgabe daher auch nicht zu Ende führt. Entsprechend sei es schwierig für die Betroffenen, einen Schulabschluss zu machen oder einen Beruf auszuüben. Auch bei der Partnerwahl gebe es häufig Probleme – vor allem, wenn eine Person sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Teilpersönlichkeiten zu kämpfen habe. Denn dann wisse die Person unter Umständen gar nicht, zu welchem Geschlecht sie sich hingezogen fühlt.

Ausgelöst werden solche Störungen nach den Worten von Breitenbach durch extreme sexuelle oder sadistische Gewalt über einen längeren Zeitraum hinweg. Im Zuge dieser Gewalt entstehen im Kopf der Opfer „voneinander getrennte Schaltkreise“, erklärt die Psychotherapeutin. Diese Schaltkreise speichern die sich wiederholenden Situationen extremer Gewalt fern vom Bewusstsein ab. So entstehen im Kopf der Betroffenen mit der Zeit mehrere Teilpersönlichkeiten. Dadurch sehen sich die Opfer quasi von außen, als Beobachter, und „flüchten“ so aus der Gewaltsituation.

Die meisten Betroffenen wurden von Männern misshandelt

„Viele der Frauen, die zu uns kommen, können es sich anfangs kaum vorstellen, dass sie es verdient haben, anständig und ohne Gewalt behandelt zu werden – als Mensch mit einem Recht auf Achtung“, sagt Gaby Breitenbach.

Die meisten der Frauen, die bei Vielseits Hilfe suchen, wurden in der Vergangenheit von Männern misshandelt und haben daher oft große Angst vor dem anderen Geschlecht. Zwar gibt es im Vielseits-Team auch männliche Mitarbeiter, die helfen sollen, ein anderes Männerbild zu vermitteln. Betreut werden in der Einrichtung aber ausschließlich Frauen. Ihnen soll dabei geholfen werden, ihre verschiedenen Teilpersönlichkeiten kontrollierter zu steuern und im Alltag besser zurecht zu kommen. Außerdem sollen die Frauen lernen, auch über schambehaftete Themen oder über kritische Momente zu reden und zu reflektieren.

Den Frauen fehlt es noch immer an Unterstützung

Zu Beginn des Modellprojekts wurden acht Frauen betreut, inzwischen sind es zehn. Der eigentliche Bedarf an Betreuungsmöglichkeiten, betonen Breitenbach und Ziegler, sei jedoch etwa zehnmal höher. Ihr großer Wunsch sei eine Wohngemeinschaft für die Vielseits-Teilnehmerinnen. Dazu fehle es aber noch an einer tragfähigen Vereinbarung mit den Kostenträgern. Schließlich seien die Kosten einer solchen Intensivbetreuung entsprechend höher. „Den Frauen fehlt aber eine Lobby in der Gesellschaft“, sagt Breitenbach. „Deren existenzielle Not wird nur von wenigen Menschen wahrgenommen.“