Lilian Haas aus Wolfschlugen ist 23 und seit mehr als 13 Jahren krank. Trotzdem schaffte sie ihre Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation. Heute sucht sie Arbeit. Aber das ist in ihrem Fall gar nicht so einfach.

Wolfschlugen - Die Frage stellt sich bei jedem Anschreiben, bei jeder Bewerbung, immer wieder. Der Cursor blinkt schwarz auf weiß auf dem Bildschirm, regelmäßig, gleichmäßig. Unaufhörlich. So, als wollte er Lilian Haas mit jedem Blinken neu herausfordern. Schreiben oder verschweigen? Die Worte „Grad der Behinderung: 40“ tippen – oder die Zeile leer und weiß lassen, lieber schnell weiter zu den Zeugnissen? Die Frage ist nicht neu, Lilian Haas hat schon oft versucht, sie zu beantworten. Im vergangenen Jahr gut 200-mal. Eine Antwort, mit der sie zufrieden wäre, hat sie bis heute nicht gefunden.

 

Lilian Haas ist 23 Jahre alt, und schon mehr als die Hälfte ihres Lebens ist sie krank. Seit einem Junitag im Jahr 2001 weiß sie auch, dass sie nie wieder gesund werden wird. Damals brachten ihre Eltern die junge Lilian in die Kinderklinik nach Esslingen. Schon ein paar Tage hatte das Mädchen über Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt, sich immer wieder übergeben. Die Ärzte erstellen eine Schichtaufnahme ihres Kopfes. Darauf ist ein Tumor gut zu erkennen. Familie Haas wird ins Stuttgarter Katharinenhospital überwiesen. Die Spezialisten erklären, die Wucherung in Lilians Kopf habe sich bereits im Mutterleib entwickelt. Nun vergrößerte sie sich plötzlich stark, bildete Zysten und drückte so auf die Hirnmasse. Daher die Kopfschmerzen. Die Spezialisten erklären auch, dass Kraniopharyngeome wie das in Lilians Schädel äußerst selten seien. Weniger als 100 Fälle, so wird geschätzt, gibt es davon pro Jahr in Deutschland. Die meisten treten im Kindesalter auf, eine zweite Häufung liegt im Alter zwischen sechzig und siebzig. Als Mittel der Therapie gilt bis heute die operative Entfernung.

Die Spezialisten legen die zehnjährige Lilian auf einen OP-Tisch und sägen ihr die Schädeldecke auf. Familie Haas weiß, dass der Eingriff riskant ist. Beim Versuch, den Tumor zu entfernen, können gesunde Teile des Hirns verletzt werden. Doch die Alternative ist noch viel bedrohlicher: Sehstörungen bis hin zum teilweisen Erblinden, Wachstumsstörungen, unerträgliche Kopfschmerzen. Familie Haas bleibt nur, das Beste zu hoffen.

Die gekappte Leitung im Kopf

Der Eingriff verläuft zunächst problemlos. Bis die Ärzte eine Leitung in Lilians Kopf kappen. „Es war, als würde man bei einem Telefon die Schnur durchschneiden“, sagt Lilian Haas heute. „Beide Teile, Hörer und Gabel, sind noch intakt. Aber es gibt keine Verbindung.“ Der Hörer, das ist in ihrem Fall die Hypophyse, die Hirnanhangdrüse, verantwortlich für die Produktion vieler wichtiger Hormone, für das richtige Körperwachstum zum Beispiel und die Regulierung des Gewichts. Die Gabel, das ist der Rest ihres Gehirns. Seit 13 Jahren besteht kein Anschluss mehr.

Seither muss Lilian Haas die fehlenden Hormone in Form von Tabletten zu sich nehmen. Die Hormonsubstitution ist einerseits ihre Rettung, ermöglicht sie doch ein nahezu beschwerdefreies, selbstbestimmtes Leben. Andererseits ist sie ihr größtes Problem. Denn sie verhindert, dass Lilian Haas einen Arbeitsplatz findet.

Nach der Operation kommt sie in die Reha, wird psychologisch betreut und taucht nach einiger Zeit wieder in den Schulalltag ein. Die Tabletten sind kein perfekter Ersatz, vor allem ihr Kurzzeitgedächtnis leidet unter den fehlenden natürlichen Hormonen. Trotzdem hängt sie sich rein, lernt, ist motiviert. Und schließt die Realschule mit einem guten Durchschnitt ab. Für ihr Berufsleben hat sie eine klare Vorstellung: sie will Arzthelferin werden.

Als Lilian Haas die ersten Bewerbungen an Praxen nahe ihrer Heimatgemeinde Wolfschlugen schreibt, stellt sich die Frage zum ersten Mal: die Krankheit angeben und auch die damit verbundene lebenslange Therapie? Riskieren, deshalb gegenüber den anderen Bewerbern keine Chance zu haben? Oder doch verschweigen und hoffen, dass im Bewerbungsgespräch niemand danach fragt? Rechtlich ist sie nicht dazu verpflichtet, ihre Behinderung offenzulegen – es sei denn, sie beträfe ihre mögliche Tätigkeit in einem „besonders hohen Maß“. So zumindest besagt es die bisherige Rechtsprechung. Bleibt die Frage: Was ist ein „besonders hohes Maß“? Und wann betrifft eine Behinderung den Berufsalltag?

Die große berufliche Chance

Im Herbst 2008 stellt sich Lilian Haas zum ersten Mal in einer Arztpraxis vor. Sie erwähnt ihre Krankheit nicht, bekommt den Ausbildungsplatz und die Gelegenheit, ihren Traumberuf zu erlernen. Aber das Geheimnis währt nicht lange. Ihr Chef erfährt von der Behinderung, er fühlt sich von ihr hintergangen und entlässt sie.

Lilian Haas bewirbt sich erneut, wieder bei Arztpraxen in der Nähe. Diesmal schreibt sie von ihrem Handicap und den Tabletten. Und wird, zu ihrer eigenen Überraschung, eingestellt. Eine urologische Praxis bietet ihr einen Ausbildungsplatz und verspricht, ihr Zeit für die Eingewöhnung zu geben. Zweieinhalb Monate geht alles gut, Lilian Haas arbeitet vor allem im Labor. Doch dann kommt auch hier die Kündigung. Zwischen all den Proben, Bechern und Tests hat sie Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Sie habe ein Problem, wenn sie viele Aufgaben gleichzeitig erledigen müsse. „Mit Multitasking tue ich mich schwer“, sagt Haas. Man könnte auch sagen: Sie ist etwas langsam in dem, was sie tut, langsamer jedenfalls als die Kollegen. Zu langsam, wie der Praxischef meint.

Lilian Haas beschließt, ihren Traumberuf aufzugeben. Das Arbeitsamt empfiehlt ihr, sich an einem Berufsbildungswerk anzumelden. Dort hat sie die Möglichkeit, einen von der IHK anerkannten Abschluss zu erreichen – in einem Tempo, das sie mitbestimmt. Der große Unterschied zu einer betrieblichen Ausbildung: es gibt keinen praktischen Teil, die Zeit neben der Schule verbringt Lilian Haas nicht in einem Unternehmen, sondern in einer Übungsfirma. Sie stellt Rechnungen, die keiner bezahlt, schreibt Briefe, die niemals ankommen, und verhandelt mit Partnern, die es nicht gibt. Sie simuliert die Arbeitswelt, ist aber nicht ein Teil davon. Nach drei Jahren am Berufsbildungswerk in Neckargemünd und einer erfolgreichen Abschlussprüfung ist Lilian Haas von Beruf Kauffrau für Bürokommunikation – und voller Hoffnung auf eine Stelle. Doch diese schwindet schnell.

Spätestens beim Blick auf das Zeugnis ist es aus

Bis heute hat sie mehr als 200 Bewerbungen geschrieben und keinen Arbeitsplatz gefunden. Dabei werden Bürokauffrauen gesucht, allein für den Raum Stuttgart führt die Arbeitsagentur mehr als 150 offene Stellen. In vielen Absagen sei ihre außerbetriebliche Ausbildung angesprochen worden, sagt Lilian Haas. Selbst wenn sie ihre Behinderung nicht angegeben hatte: spätestens beim Zeugnis des Berufsbildungswerks seien die meisten Personaler stutzig geworden. „Für viele Unternehmen war das ein Zeichen: Hier kann was nicht stimmen. Einmal hieß es sogar: ,Das ist eine Behinderten-ausbildung. Damit können wir Sie nicht einstellen.‘“

Im vergangenen Frühjahr entscheidet Haas daher, ihre Krankheit nicht mehr als Nachteil zu begreifen, sondern als Chance. Es gibt Stellen, die explizit für Bewerber mit einem Handicap ausgeschrieben sind. Es gibt eine finanzielle Förderung durch das Arbeitsamt für Unternehmen, die behinderten Bewerbern eine Stelle anbieten. Es gibt das großes Versprechen der Inklusion durch die Politik. Alle sollen mit. Lilian Haas beantragt einen Schwerbehindertenausweis.

Ab einem Grad von 50 gilt ein Mensch in Deutschland als schwerbehindert, es existieren exakte Kriterien, nach denen eingestuft wird. Verlust eines Daumens: 25 Punkte. Verlust eines Armes: zwischen 50 und 70 Punkte – je nachdem, an welcher Stelle der Arm abgetrennt wurde. Haarausfall: 30 Punkte. Der Katalog hat 60 eng bedruckte Seiten. Für die Erkrankung von Lilian Haas ergibt er einen Wert von 40.

Drastisch verkürzt, könnte man ihre Situation so beschreiben: Sie ist zu behindert, um für den ersten, den „normalen“ Arbeitsmarkt interessant zu sein. Aber nicht behindert genug für den Ausweis. Zwar könnte sie ein neues Gutachten fordern, um Schwerbehinderten gleichstellt zu werden und die berufliche Förderung zu erhalten. Trotzdem fällt Haas gewissermaßen durch das Inklusionsraster. Es gibt für sie keinen vorgezeichneten Weg ins Arbeitsleben. Die Gefahr ist groß, auf der Strecke zu bleiben.

Nach der Ausbildung zieht Haas wieder bei ihren Eltern ein. Diese unterstützen sie, auch finanziell. Doch die Situation belaste die ganze Familie, sagt die Mutter Susanne Haas. Sie ist Krankenschwester, in all den Jahren hat sie ihre Tochter begleitet zu Ärzten, ins Krankenhaus. Lange hat sie versucht, Optimismus und Zuversicht vorzuleben. Inzwischen ist sie vor allem wütend. Viele Unternehmen, sagt sie, müssten einfach mutiger sein und Bewerbern wie ihrer Tochter eine Chance geben. „Lilian wäre genauso effektiv wie alle anderen, wenn sie ein bisschen Zeit bekäme, sich einzuarbeiten. Aber diese Zeit gibt ihr niemand.“