Anfassen erlaubt: Direkte Kunsterfahrung ist ein Grundprinzip der Inklusion in der Staatsgalerie Stuttgart. Auch für Sehbehinderte wird der Zauber von Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ erlebbar.

Albert Grimm ist ein ernsthafter Mann. Er wägt seine Worte sorgsam ab. Wer in einem Museum Programme für Sehbehinderte entwickle und anbiete, müsse deutlich differenzieren, sagt der von Geburt an blinde Grimm. „Wir haben viel von Herrn Grimm gelernt“, sagt Christiane Lange, die Direktorin der Stuttgarter Staatsgalerie, als sie die im Lauf von nun zehn Jahren immer weiter entwickelten inklusiven Angebote des größten Museums im Land vorstellt.

 

Jeder Mensch hat eigene Voraussetzungen

Grimm antwortet darauf auf seine ganz eigene Art: „Ich hatte das Glück“, sagt er, „dass ich in der Nikolauspflege hervorragend ausgebildet worden bin, meine Tasterfahrung entsprechend schärfen konnte“. „Aber“, sagt Albert Grimm weiter, „überlegen Sie bitte, mit welch ganz anderen Voraussetzungen ein Mensch in dieses Haus kommt, der erst als Erwachsener das Augenlicht verliert“. Dann fehle die Grundsicherheit im Umgang mit allem Draußen, und es brauche „andere Möglichkeiten, um sich zurechtzufinden“.

Auch Simone Fischer, die Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, ist beeindruckt. „Beim Thema Inklusion glaubt man sich immer wieder am Anfang“, sagt sie. Tatsächlich aber hat die Staatsgalerie auf dem Weg zum inklusiven Museum schon viel erreicht. Ein mobiler „Treffpunkt Inklusion“ informiert schon im Foyer über die Angebote, die von James Stirling bereits barrierefrei gedachte Neue Staatsgalerie bietet nahezu ideale Möglichkeiten eines inklusiven Ortes. „Wichtig ist dabei, dass möglichst alles selbstständig zugänglich ist“, sagt Albert Grimm in den Sammlungsräumen im Obergeschoss. Noch so ein wichtiger Satz.

Auch für Sehbehinderte erarbeitet: Wegeführung durch die Staatsgalerie Foto: LICHTGUT/Leif Piechowski

Arne Braun, der neue Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, horcht auf. Wie das denn grundsätzlich sei mit den Wegen und der Orientierung in Stuttgart, will er wissen. Gekommen ist Braun, der seinen ersten offiziellen Auftritt in der Staatsgalerie im neuen Amt absolviert, um das Erreichte zu bestätigen. Doch schon bald wechselt Braun die Rolle. Ob es um das Ertasten einer Bronze-Skulptur von Otto Freundlich geht oder darum, wie in der Hugo-Boss-Werkstatt Schülerinnen und Schüler der Nikolaus-Pflege ihre Erfahrungen von und mit den Figurinen von Oskar Schlemmers Jahrhundertwerk „Das Triadische Ballett“ umgesetzt haben: An diesem Vormittag ist der Staatssekretär ein Lernender. Vielleicht auch deshalb legt er spürbar Gewicht in seine Worte, als er sagt, es gehe hier „eben nicht um ein ,nice to have’“.

Vielmehr ergäben sich aus dem Inklusionskonzeption der Staatsgalerie „grundsätzliche Fragen für die gesellschaftliche Teilhabe“, sagt Braun. Für die Staatsgalerie heißt dies: Ist das Museum für alle Menschen ein Willkommensort? „Das ist auf jeden Fall und jeden Tag unser Ziel“, sagt Direktorin Lange.

Wie aber erfahren etwa Sehbehinderte und Blinde die Schätze der Staatsgalerie? Seit einiger Zeit schon fallen vor allem Kinder und Jugendliche auf, die mit dünnen schwarzen Handschuhen die Ausformungen der überlebensgroßen bronzenen Rückenansichten von Aristide Maillol ertasten. In ihrem Lächeln liegt Stolz, jede Berührung ist intensiv – wie die Ruhe ihrer Bewegungen inmitten des eigentlich eher trubeligen Verteilerraumes zwischen Neubau und Altbau.

Über 3 D-Modelle näher dran an Oskar Schlemmers Figurinen Foto: LICHTGUT/Leif Piechowski

Apropos: Wie sieht die Staatsgalerie eigentlich aus, was ist das für ein Gesamtareal mit Altbau, Stirling-Bau, Steib-Bau? Ein 3-D-Modell lädt zur Erkundung. Der Clou: Die Bauteile lassen sich auseinandernehmen und wieder zusammenfügen. Spielerisch lernen so alle Besucherinnen und Besucher das Gesamte und die Teile der Staatsgalerie kennen. Der unmittelbare Kontakt bleibt auch im Museum selbst wichtig. Nein, Schlemmers Figurinen erlauben kein Tasten. Und doch ist ihr Zauber erlebbar – über 3-D-Modelle. Die L-Bank und der Laserspezialist Trumpf SE + Co.KG. ermöglichten deren Produktion – und getrost darf man diese Modelle als Vorreiter einer wünschenswerten Kette von mit allen Sinnen erfassbarer Skulpturen in der Staatsgalerie sehen. Wie aber lässt sich in den durch die Stiftung „Kinder fördern – Zukunft stiften“ unterstützten Führungen die Malerei erfassen? „Die Staatsgalerie ist tatsächlich zuvorderst ein Bildermuseum“, sagt Christiane Lange. Die kostbaren Leinwände abzutasten könne man aber nicht erlauben. Wie es geht, zeigt Franz Marcs Bild „Die gelben Pferde“. Als Halbrelief macht es die Begegnung der Tiere auf spannende Weise erfahr- und erlebbar. Halbreliefs gibt es auch für einige der Schlemmer-Figurinen. Und diesen gilt nicht zuletzt ein hochwertiges inklusives Arbeitsbuch für Kinder und Jugendliche. Weitere Geldgeber für dessen Produktion und den Ausbau der Inklusionsprogramme der Staatsgalerie wären sicher gerne gesehen.

Staatsgalerie barrierefrei

Führungen
 Die Staatsgalerie Stuttgart (Konrad Adenauer-Straße 40-42, Eingang über Rampe neue Staatsgalerie) hat in den vergangenen Jahren einige barrierefreie Führungsprogramme entwickelt – für Menschen mit Demenz, für Menschen mit Hörbeeinträchtigung und Gehörlose, für Sehbehinderte und Blinde sowie für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Zudem gibt es Führungen in leichter Sprache, außerdem Begrüßung- und Erklärvideos in Gebärdensprache.

Gebühren
Der Eintritt in Sammlung und Sonderausstellungen ist für Kinder und Jugendliche bis einschließlich 20 Jahre frei – ermöglicht von der L-Bank. Für Besucher mit Schwerbehindertenausweis gibt es spezielle Ermäßigungen.

Alle Informationen unter https://www.staatsgalerie.de/besuch/staatsgalerie-barrierefrei.html