Auf dem Weg zum Kern des Menschen: Der Benediktinermönch Jakobus lebt seit 19 Jahren als Einsiedler auf einem Berg im Südschwarzwald.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Beuron - Der Weg ist beschwerlich und gefahrvoll. Immer tiefer in den Wald, immer schmaler und steiler werdende Pfade. Mit Kratzgeräuschen am Unterboden schaukelt das Auto im Schritttempo den Berg hinauf. Jetzt anhalten und anfahren müssen, gäbe der Kupplung den Rest. Dann Zweifel, ob man die richtigen Weggabelungen gewählt hat oder das Ziel mit jeder Schieflage nur noch ferner rückt. Irgendwann scheint klar: Jetzt kann es nicht mehr weiter gehen. Wer trotzdem am Kurs festhält, passiert bald eine rostige Schranke, die wie ein Fingerzeig nach oben weist. Nicht mehr lange, und auf dem Gipfel sind die tausend Jahre alten Mauern der Burg zu erkennen, davor ein Ford Mondeo, Baujahr ’97. Schließlich öffnet sich der Baumkronen-Baldachin, dann ist nur noch Himmel. Hier lebt der Mönch Jakobus.

 

Er sitzt vor der spätgotischen Kapelle: schwarze Benediktinerkutte und Kunststoffsandalen, stahlblaue Augen, kolossale Brauen, Nasenhaare ragen wie Strohbüschel ins Gesicht, der Hals blutig von der Morgenrasur.

Im südlichen Schwarzwald, vierzig Kilometer vom Heimatkloster Beuron entfernt, hat der 63-jährige Benediktiner seine Bergklause. Wo genau, soll nicht so weit verbreitet werden. Der Reiz für Ausflügler, sich mal einen echten Eremiten anzuschauen, sei doch sehr groß. Und täglich froh gestimmte Wandergruppen zu bewirten, ist nicht unbedingt das, was sich Bruder Jakobus unter einer Einsiedlerexistenz vorstellt.

Außer den Motorsägen der Waldarbeiter und der Kirchenglocke vom Dorf dringen keine Zivilisationslaute herauf. Nur er und die Schöpfung. Zu der Linde auf der Wiese vor der Klause hat er ein besonderes Verhältnis. Das näher zu beschreiben, meint er, würde sich zu esoterisch anhören. Manchmal schaut hier ein Fuchs vorbei, ein Reh, ein Dachs. Im Haus haben sich Siebenschläfer eingenistet. Seit kurzem taucht ab und zu eine Katze auf. Er füttert sie nicht. Sie soll sich nicht auf ihn verlassen. Lieber wild bleiben.

Morgens um sechs meditiert Jakobus zwei Stunden. Um neun geht er zum Gebet in die Kapelle. Um zwölf und um drei ist wieder Gebet. Abends um acht meditiert er eine Stunde. Gegen Mitternacht hält er sein letztes Gebet.


Bruder Jakobus sagt: „Stille hat den Geschmack von Unendlichkeit. Durch die Übung des Schweigens erlebe ich die Wonnen der Weite. Zugleich bahne ich mir wie ein Bohrkern den Weg durch die tieferen Sedimentschichten der Seele, den mit Schuld und mit Angst belegten Horizonten. Wer den Rhythmus der Verinnerlichung immer weiter vorantreibt, wer sich immer mehr verfeinert, kann die Schatten von der Seele streifen und bis zum Nukleus vordringen. Und der Kern des Menschen, so die Verheißung, ist sehr gut.“

Es gibt Karotten und Kartoffeln zum Mittagessen. Die hat Jakobus im Dorf gekauft. Gemüsebeete findet man nicht auf dem Berg. Er ist kein Gärtner, sitzt lieber unter dem Flieder auf einem billigen Gartenstuhl und lässt die Zeit zwischen den Gebetsinseln fließen. Denkt, liest, schreibt. Jüngst hat er eine Übersetzung der Apophthegmata Patrum herausgegeben, den Weisungen der ersten christlichen Mönche in Ägypten, den Wüstenvätern. Er hält Vorträge und Seminare über Wirtschaftsethik oder Mystische Wege. Dafür bekommt er Geld. Er habe so viel, dass es zum Leben reicht. So wenig, dass es ihn vor dem Sumpf der Behäbigkeit schütze.

Krankenversichert ist er über das Kloster, wo er regelmäßig spirituelle Kurse leitet. Seine Klause hat einen Wasseranschluss, Strom, Internet, Telefon. Sein Briefkasten steht bei einem Bauern im Dorf. Den Restmüll, der nicht auf den Kompost kann, nimmt er irgendwann mit ins Tal. Kirchenrechtlich ist sein Status als Einsiedler nicht ganz wasserdicht. Jakobus lebt im Dispens – als Ausnahmefall. Manche Brüder sind nicht einverstanden: Sie finden, er gehört nach Beuron. Manche sind auf seiner Seite: Der heilige Benedikt sei ja selbst Eremit gewesen.

Im Winter verlässt er den Berg kaum, sitzt am Holzofen, hört und sieht über Tage nichts von der Welt draußen. Bei Schnee, wenn er in dem alten Ford kaum unfallfrei ins Dorf kommen würde, stiefelt er mit Rucksack hinab und holt sich das Notwendigste. Im Sommer macht der Kindergarten immer einen Ausflug zu ihm, gelegentlich kommen Pilger und Wanderer vorbei. Die Zeugen Jehova waren auch schon da.


Bruder Jakobus sagt: „Asketen sind im eigentlichen Wortsinn Übende. Die meditativen Übungen sind wie eine Schwangerschaftsvorbereitung für die Geburt ins Jenseits. Eine Ahnung der Ewigkeit. In der Monotonie der Gebete kann ich meine Gedanken loslassen. Es gibt den Horror Vacui, das Grauen vor dem Nichts. Alle Natur will die Leere ausfüllen, aber ich suche sie. Es braucht Spannkraft, um sie auszuhalten, denn sie ist nicht leicht zu ertragen. In der Leere lerne ich kennen, welche geistigen Kräfte mich beherrschen, welche Dämonen und Versuchungen in mir sind. Der gefährlichste Dämon ist vielleicht der Hochmut, weil er jene heimsucht, die sich schon fast am Ende des mühseligen Wegs wähnen. ,Der Hochmut’, heißt es bei den Wüstenvätern, ,ist eine Geschwulst der Seele, wenn sie reif ist, platzt sie und verursacht starken Ekel’. Die Dämonen bekämpft man durch Gebet, Fasten, Nachtwachen. Denn oft ist ihnen nicht konfrontativ beizukommen, sondern nur, indem man ihnen das Wasser abgräbt.“

Die innere Stimme

Aufgewachsen ist Jakobus als Erhard Werner in einem Beamtenhaushalt in Bingen, geprägt von Redlichkeit und Enge. Nach der Bundeswehr folgten ein Jurastudium und die Lebenskrise. Da nannte eine innere Stimme ihn beim Namen – mit liebevollem aber bestimmtem Tonfall, fast traurig, als wollte sie sagen: „Erhard, was machst du denn?“ Alles hatte sich bis dahin um sein kleines Ich gedreht. Alles so winzig. So niedrig. In allem nur das Bestreben, etwas vorweisen zu können. Zu erreichen, was andere von ihm erhofften. Die Stimme wusste Bescheid.

Er machte kehrt. Studierte Philosophie und Theologie im oberbayrischen Benediktbeuern, wo er die christliche Zen-Meditation und eine Frau kennenlernte. Funken sprühten, sie tauchte in seinen Gedanken von allen Seiten auf, da half keine Meditation. Wie ein Quelltopf, aus dem das Wasser nur so herausschießt und einen von sich selbst fortreißt. Er heilte das Fieber, indem er sich zurückzog. Am Ende entschied er sich fürs Kloster – den klaren Weg. Sie ging den gleichen, lebt heute in einem strengen Orden.

Jakobus entwuchs Beuron. Zehn Jahre in den Reihen der Brüder geschult, wurde er zum Nestflüchter in die Ödnis. Der Abt reagierte wie ein Vater: Mach’ in Gottes Namen, was du willst, sagte er frei übersetzt, aber finanzieren muss du dir das schon selber. Jakobus entdeckte die alte Burganlage, gründete einen Förderverein. Die Geister schieden sich an ihm. Die einen machten ihn nieder, andere erhoben ihn zum „Magier vom Berg“, der Verein gedieh. Jakobus verhandelte mit der Stadt, die schon lange eine Nutzung für die denkmalgeschützte Burg suchte. Man einigte sich: keine Pachtzahlung, dafür trägt der Verein die Baulast. Sieben Jahre wurde restauriert, 300 000 Euro sind bis heute verbaut. Seit 19 Jahren lebt Jakobus in der Klause. Seine Familie verstand nie, dass er ins Kloster ging. Das Kloster verstand nicht, dass er auf den Berg ging.


Bruder Jakobus sagt: „Wir müssen zurück zu einer natürlichen, leibbewussten Theologie. Die christliche Zen-Meditation baut mit Geist und Leib einen Raum der Stille, wo der Mensch aufblühen, in den Bauplan des eigenen Körpers eintauchen und sich dem Göttlichen nähern kann. Wir Benediktiner sind die eigentlichen Spezialisten für Innerlichkeit, weil wir in der Kontemplation beheimatet sind. Gerade deshalb müssen wir immer wieder fragen: Sind wir noch in der Spur des Unsichtbaren? Im Geist von vor 1500 Jahren? Oder hat der Wind der Geschichte uns woanders hin geweht? Die Menschen erwarten von uns Mönchen geistige Vaterschaft, Orientierung. Die heutigen Klöster sind tüchtig und effizient – kurzum professionell. Aber sie sind kraftloser geworden.“

Der Anfang des Mönchtums liegt im Dunkeln. Dann geht der Spot an, und Antonius tritt auf die Bühne. Oder besser: seine Lebensbeschreibung, die Vita Antonii. Im Jahr 270 verkauft er sein Land, nach ersten geistlichen Gehversuchen am Dorfrand lässt er sich in einer verwaisten Befestigungsanlage auf einem Berg östlich des Nils nieder. Die Wüste wird seine Pufferzone zur Welt. Als seine Bewunderer ihn zunehmend belästigen und überfordern, zieht er in eine Höhle am Roten Meer. Dort erfassen ihn Dämonen, seine Seele wird zur Arena. Doch Diabolos, der Verwirrer, trifft auf einen gut trainierten Asketen.

Antonius, das Jugendidol. Junge Männer eifern ihm nach. Die ersten Mönche sind Haudegen, Revoluzzer. Radikalasketen, die sich bis zum Exzess austesten, um Herr ihres Willens zu werden und sich ganz auf Christus zu fokussieren. Thaleleus, einer der frühen Extremisten, lebt zehn Jahre in einer Holztonne mit 80 Zentimeter Durchmesser. Damian verharrt so lange mit ausgebreiteten Armen, bis sie völlig erstarrt sind. Julianus isst nur einmal in der Woche – etwas Hirsebrot mit Salz. Andere werden verrückt.


Bruder Jakobus sagt: „Die Gesellschaft braucht Lebenszeichen durch Menschen, die sich riskieren. Sie braucht Hoffnung, dass über Ökonomie und Sachzwänge hinaus der Mensch das Wichtigste ist. Kontemplation ist ein Katalysator für gesellschaftliche Prozesse. Sammelstelle für neue Gedanken. Schnittstelle von Leben und Poesie. Dass das Menschliche bleibt, dass der Mensch nicht nur vernutzt wird, dass das Sein an keine Leistung gekoppelt ist – dafür sind wir die Wächter. Der Eremit ist da und doch nicht da. Er tut durch Nichttun. Denn die Leere erzeugt ja einen Sog, sie zieht Menschen, Fragen, Themen an. Leere heißt, sich nicht besetzen lassen, weder von Ängsten noch von Euphorien. Denn bisweilen nimmt der Widersacher auch die Gestalt eines Engels an. Die Seele soll sein wie ein Gebirgssee: unbewegt und durchsichtig bis zum Grund.“

Zwiegespräch mit den inneren Instanzen

Im Kloster und in der Welt ist die Aufmerksamkeit immer auf den Anderen gerichtet. Oben auf dem Berg klappt alles ins Inwendige. Deshalb sei es viel schwieriger, nach ein paar Tagen in Beuron wieder zurück zum Eremitenleben zu finden – als umgekehrt. In der Klause beginnt ein ständiges Zwiegespräch mit den inneren Instanzen. Oft entstehen dabei so große Spannungen, dass Jakobus das alte Mauerwerk berührt, um sich wieder zu erden. Wenn unten im Dorf die Lichter ausgehen, spielen sich oben Scharmützel ab: Was in seinen Gedanken ist der eigene Spleen und was der Heilige Geist? Was ist die Wahrheit und was Fata Morgana? Das sei die schwierigste Übung: sich selber auszuhalten.

Bis heute bemisst Bruder Jakobus sein Leben danach, ob es Bestand hat vor der Stimme, die ihn damals als jungen Mann beim Namen nannte und ihm sagte: „Sei einfach, der du bist.“