Der Südwesten ist Spitze in der Forschung und bei der Integration neuer Technologien. Doch visionäre Querdenker in Baden-Württemberg sind nicht so zahlreich.

Baden-Württemberg - Baden-Württemberg ist das Land der Tüftler und Erfinder – und der Weltmarktführer. Bahnbrechende Erfindungen wie der schnelllaufende Benzinmotor, der Zünder, das moderne Automobil, aber auch das Streichholz, die Motorsäge oder der Plastikdübel kommen aus dem Südwesten. Erfindungen sind Voraussetzungen für Innovationen und eine leistungsfähige Volkswirtschaft.

 

Inwieweit entspricht das Bild des Landes der Tüftler und Erfinder noch der Realität? Innovationen kommen heute eher aus dem Silicon Valley, aus Tel Aviv oder vielleicht aus dem hippen Berlin und nicht aus der Provinz, so der Eindruck. Auch Unternehmen aus ländlichen Bereichen eröffnen ihre „Innovation Labs“ lieber in Metropolen.

Bei den Patenten immer noch top

„Wir sind immer noch top“, sagt Hubert Siller, Geschäftsführer des Karlsruher Technologie-Lizenz-Büros (TLB). Er verweist auf die Patentanmeldungen. Laut dem Statistischen Landesamt weist der Südwesten unter 87 europäischen Regionen die höchste Innovationskraft auf. „Nirgendwo sonst in Europa ist die Forschungsintensität so hoch wie in Baden-Württemberg. 2015 belief sie sich hierzulande auf den Spitzenwert von 4,9 Prozent“, bestätigt Georg Licht, Leiter des Forschungsbereichs „Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik“ beim Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Zum Vergleich: Ostschweden kommt auf 3,6 Prozent, Ostengland auf 3,4 Prozent.

Ein Drittel der Patentanmeldungen in Deutschland kommt aus Baden-Württemberg. Mit 133 Anmeldungen pro 100 000 Einwohner liegt das Land vorn. Die Stärke des Landes basiert auf dem engen Geflecht aus Zulieferern, Wettbewerbern und Ideengebern. Großunternehmen wie SAP, Daimler und Bosch stehen für den Großteil der Patentanmeldungen. Daneben sind es aber auch Ingenieurbüros, eine Vielzahl von Mittelständlern wie Mahle und Ziehl-Abegg, aber auch neuere Akteure wie Teamviewer aus Göppingen, RIB Software oder die Biotechnologie-Unternehmen Cegat und Curevac aus Tübingen sowie Forschungseinrichtungen wie die Steinbeis-Stiftung oder Fraunhofer-Institute, die für das Land stehen.

Baden-Württemberg hat 76 Hochschulen, 100 Forschungseinrichtungen und rund 80 regionale Netzwerke, sogenannte Cluster. Dazu gehören etwa die Medizintechnik in Tuttlingen, die Biotechnologie in Heidelberg, die Luft- und Raumfahrt am Bodensee, die Automobilbranche in Stuttgart oder IT und Software in Karlsruhe. Die Hochschulen im Land sind vielfach spitze. „Baden-Württemberg ist gut, wenn es darum geht, neue Technologien etwa in den Fahrzeugbau, in die Elektrotechnik oder in den Maschinenbau zu integrieren“, sagt Licht.

Querdenker in Baden-Württemberg? Technikideen gibt es

An der Universität Stuttgart, an der vor 100 Jahren die erste deutsche Professur für Luftfahrttechnik eingerichtet worden ist, wurde das Leichtflugzeug e-Genius entwickelt und konstruiert, im badischen Bruchsal das Flugtaxi Volocopter. In Stuttgart ist am Institut für Leichtbau zusammen mit dem Institut für Systemtechnik und dem Industriepartner Bosch Rexroth das dünne und ultraleichte Holzdach „SmallShell Stuttgart“ entwickelt worden, das vielleicht einmal Stadien überspannen könnte. Die Software der Göppinger Teamviewer ist in weltweit zig Millionen Computern installiert. Bei Ziehl-Abegg in Künzelsau wurde ein Lüfter mit minimalem Strombedarf entwickelt. Und ein extrem miniaturisiertes Augen-Implantat von Alamedics könnte schon sehr bald Patienten mit grünem Star helfen.

Der größte Teil der Patente im Land wird um die Universitäten in Karlsruhe, Stuttgart, Heidelberg, Ulm, Freiburg und Tübingen, aber auch etwa in Tuttlingen erteilt, berichtet Siller von der TLB. Die TLB bewertet die Patentfähigkeit von Erfindungen aus den Universitäten im Land, prüft ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit und hilft bei der Partnersuche. „Wir kommen auf etwa 50 bis 60 Patente im Jahr“, berichtet Siller. Universitäten wie Tübingen und Heidelberg verwerten ihre Erfindungen etwa im Bereich Life Science inzwischen aber lieber selbst.

Disruptive Technologien entstehen an Universitäten

Die Stärke der universitären Forschung sieht Siller vor allem in der Grundlagenforschung: „Disruptive Technologien entstehen eher an Universitäten“, weiß er. „Dort haben Wissenschaftler eher die Möglichkeit, auch mal kreativ ohne strikte Zielvorgaben zu sein.“

Siller sieht keinen Grund zum Zurücklehnen. „Wir müssen schauen, dass wir den Anschluss nicht verlieren.“ Und Professor Dietmar Harhoff, Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung, weist darauf hin, dass „Wissen immer schneller veraltet. Deshalb müssen die Forschungsausgaben weiter steigen.“ Selbst die besten Förderprogramme erreichten nur einen kleinen Teil der Unternehmen. Frankreich und Großbritannien hätten gute Erfahrungen mit Steuervergünstigungen für Mittelständler gemacht, die Forschung betreiben. Und noch etwas bemängelt Harhoff: Was Unis erforschten, führe zu selten zu Unternehmensgründungen. Die Rahmenbedingungen seien nicht optimal. Während es in der Startphase vielfach öffentliche Hilfen gebe, fehle in einer späteren Phase häufig Wagniskapital. Licht zufolge fehlt auch eine Evaluationskultur. Es werde zu selten geprüft, ob und wie eine Maßnahme wirke.

Querdenker in Baden-Württemberg müssten Dinge radikal infrage stellen

Er findet: „Es fehlen die Querdenker in Baden-Württemberg, die Dinge radikal infrage stellen. Alles bewegt sich zu sehr im etablierten Bereich.“ Das liegt wohl auch daran, dass der Großteil der Forschung in Unternehmen stattfindet, die sich ungern selbst infrage stellen. Und wer einen festen und gut bezahlten Job hat, gibt diesen ungern auf, um sich auf eine risikoreiche Unternehmung einzulassen, die nur selten zu so viel Ruhm führt wie bei Steve Jobs.

Und dennoch, es gibt sie, die Querdenker in Baden-Württemberg: Visionäre, die viel wagen und reüssierten. So wie Ingmar Hoerr, der vor 18 Jahren in Tübingen das Biotechnologie-Unternehmen Curevac gegründet hat. Mit einem Unternehmenswert von 1,6 Mrd. Euro gehört es zu den wertvollsten Gesellschaften, die in den letzten Jahren in Deutschland gegründet wurden. Nach Hoerrs Einschätzung ist Deutschland nach wie vor stark in der Grundlagenforschung. Doch es gebe zu wenig Investoren, die bereit seien, ins Risiko zu gehen. Er hatte Glück. SAP-Gründer Dietmar Hopp glaubte an ihn und unterstützte ihn. Am Tübinger Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme versucht man, von Amerika zu lernen. Dort arbeiten Forscher eng mit Unternehmen zusammen, die Wagniskapital geben.