Die Autoindustrie baut ihr Geschäftsmodell um. Autos verwandeln sich in vernetzte Großrechner, Entwicklung und Produktion werden flexibler und kostengünstiger.

Stuttgart - Die Digitalisierung der Wirtschaft verlangt Antworten auf viele knifflige Fragen. Dies geht bis hin zur angemessenen Arbeitskleidung. Als die hundert obersten Führungskräfte von Daimler im Sommer den Koffer für ihr jährliches „Top-Management-Meeting“ packten, stellte sich die Frage: Was zieht man an? Anzug oder Hoodie? Am Ende packten viele, wie ein Teilnehmer erzählt, den Kapuzenpulli ein. Denn das Treffen fand im Silicon Valley statt. Und in diesem Kraftzentrum der globalen Digitalwirtschaft, wo sich rund um die Stanford University wichtige IT- und Internetunternehmen wie Apple, Google und Facebook angesiedelt haben, trägt nicht nur Facebook-Chef Mark Zuckerberg gerne den bequemen Schlabberlook.

 

Daimler-Chef Dieter Zetsche nutzte diesen Kurztrip nach Kalifornien auch für vertrauliche Gespräche über eine mögliche Allianz zwischen dem Stuttgarter Autoriesen und einem oder mehreren dieser IT- und Internetunternehmen. Google experimentiert seit Jahren mit autonom fahrenden Roboterautos und immer wieder erhalten Gerüchte neue Nahrung wonach Apple mit einem eigenen Angebot die Autoindustrie aufmischen wolle. „Diese Unternehmen verstehen etwas von Daten und Vernetzung, von dem, was Kunden wirklich wollen, auch zum Beispiel, wie Bedienkonzepte gestaltet sein sollten“, meinte Daimler-Forschungs- und Entwicklungschef Thomas Weber jüngst im StZ-Interview. Eine Entscheidung über ein Bündnis gibt es bis heute nicht. Aber die Gespräche waren beim Rückflug der Daimler-Mannschaft keineswegs beendet. „Wir sind hier sehr intensiv unterwegs“, versichert ein Insider.

Daimler will Vorreiter sein

Die Stuttgarter wollen in der Autoindustrie Vorreiter sein bei der Digitalisierung und der vierten industriellen Revolution, die auch als Industrie 4.0 abgekürzt wird. Ausgelöst wurde sie durch neue technische Möglichkeiten, die durch moderne Informations- und Kommunikationstechnik sowie das Internet geschaffen wurden.

Der Wandel betrifft nicht nur die Produkte, die auf dem Weg zum autonomen Fahren zu rollenden Großrechnern mit permanentem Datenaustausch werden, sondern das gesamte Geschäftsmodell. Die reale Welt und die Rechner werden eng miteinander verzahnt, Lieferanten und Kunden, Maschinen und Transportsysteme in ein Netzwerk eingebunden, das mit Echtzeitdaten arbeitet. „Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die vollständige Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette“, so Zetsche, „von Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zum Vertrieb“. Besonders weit fortgeschritten ist die neue Technik bei Daimler im Bereich Forschung und Entwicklung. „Bevor wir ein Auto auch nur in die Nähe unseres Windkanals lassen, hat es als komplettes Datenmodell bereits viele digitale Tests erfolgreich bestanden“, erläutert Entwicklungsvorstand Weber.

Auf diese Weise können mit immer leistungsfähigeren Rechnern schneller und kostengünstiger mehr Modellvarianten entwickelt werden. Mit Hilfe von „Big Data“ läuft die Entwicklung eines neuen Modells und die Fertigungsplanung Hand in Hand. Die Entwickler können schon lange bevor das erste Blech verarbeitet wird überprüfen, welche Konsequenzen eine bestimmte Konstruktion etwa auf die Fertigung im Presswerk hat.

Die Produktion läuft flexibler und kostengünstiger

Oder es kann überprüft werden, ob sich die Beschäftigten für das Anziehen von Schrauben verrenken müssen, indem die Bewegung eines Mitarbeiters mit Hilfe von Kameras und einer Software, wie sie auch in der Filmindustrie verwendet wird, auf eine virtuelle Figur (Avatar) übertragen wird. Damit können Montageschritte realitätsnah an Autos getestet werden, die es zu diesem Zeitpunkt nur als Datensatz im Rechner gibt. Auch die Produktion läuft dank Digitalisierung schneller, kostengünstiger und flexibler. Entwickelt wird die neue Produktionsweise in der sogenannten Technologie-Fabrik auf dem Sindelfinger Werksgelände. Hier können neue Ideen erst einmal in Ruhe und in kleinem Maßstab ausprobiert werden, bevor sie in der Serienproduktion eingesetzt werden. Dies gilt etwa für den Einsatz kompakter Montageroboter, die Seite an Seite mit den Beschäftigten im Auto arbeiten, Schrauben anziehen oder schwere Komponenten, wie Getriebeteile mit zehn Kilo Gewicht passgenau montieren. Bei der Montage von Doppelkupplungsgetrieben im Werk Untertürkheim und demnächst auch bei der Fertigung des Sportwagens Mercedes-AMG GT in Sindelfingen wird diese neue Arbeitsteilung von Mensch und Maschine in Pilotprojekten erstmals auch in der Serienfertigung eingesetzt.

Im Vertrieb hat Daimler im vorigen Jahr mit dem neuen Internet-Service-Portal „Mercedes me“ und dem Start des Onlineverkaufs von Neuwagen digitales Neuland betreten. Der Internetverkauf wird in Deutschland über die Hamburger Niederlassung von Mercedes-Benz organisiert. In der Hansestadt wurde auch der erste „Mercedes me Store“ eröffnet, eine Mischung aus Café und Verkaufshaus, wo Automodelle auf einer riesigen Bildschirmwand präsentiert werden und die Besucher sich an einem großen Tisch mit Touch-Pad-Oberfläche über technische Details ihres Wunschautos informieren können. Mittlerweile gibt es weitere solcher Stores in Mailand, Tokio, Hongkong und München.

Ziel all dieser Initiativen ist, zusätzliche unkomplizierte Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. So können Mercedes-Kunden per Internet-Portal bequem vom Sofa aus etwa einen Werkstatttermin vereinbaren oder aus der Ferne kontrollieren, ob alle Türen verriegelt sind. Seit kurzem können sie zudem per Smart-Phone-App beispielsweise an kalten Tagen die Standheizung einschalten oder aus der Ferne prüfen, wieviel Sprit noch im Tank ist.

Große Erwartungen an die neue E-Klasse

Einen weiteren deutlichen Schritt auf dem Weg zum autonomen Fahren verspricht Mercedes-Entwicklungschef Weber mit der Premiere der neuen E-Klasse im Januar auf der Automesse in Detroit. Mercedes-Vertriebschef Ola Källenius bezeichnet sie gar als die „intelligenteste Business-Limousine der Welt“. Die neue Generation soll bis zu einer Geschwindigkeit von 200 km/h automatisch den korrekten Abstand zu vorausfahrenden Wagen halten und den Fahrer beim Lenken unterstützen. Das Überholen muss freilich weiter der Fahrer übernehmen. Zudem vernetzt sich das Auto per Mobilfunk mit vorausfahrenden Fahrzeugen und kann davor warnen, dass hinter der nächsten Kurve ein Pannenauto steht. Erstmals kann der Wagen auch von außen per Smartphone geparkt werden. Wer sich die neue E-Klasse zulegt, braucht künftig auch keinen Autoschlüssel mehr. Denn geöffnet und verschlossen wird der Wagen ganz im Stil der neuen Zeit – per Smartphone.

Interview mit Daimler-Betriebsratschef Brecht

Stuttgart - Die Digitalisierung bringe Chancen, aber auch Risiken, meint Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht. Sie kann belastende und monotone Arbeit verringern. Es dürfe bei diesem Umbau jedoch nicht nur um Kostensenkung gehen.
Herr Brecht, die Manager frohlocken: Die Produktion läuft durch die Digitalisierung flexibler, schneller, kostengünstiger. Wie aber sieht die neue Arbeitswelt aus?
Die neuen Techniken können dabei helfen, körperlich belastende und monotone Tätigkeiten zu reduzieren. Die Mitarbeiter führen dann weniger Montagearbeiten selbst aus, sondern sorgen dafür, dass alles läuft, überwachen die Fertigung, greifen ein, wenn die Produktion stockt. Es kann dadurch mehr gut qualifizierte Arbeit geben. Dies ist aber kein Selbstläufer, sondern muss von uns mitgestaltet werden. Es darf dabei nicht nur um Kostensenkung gehen.
Arbeitsmarktforscher haben eine Modellrechnung vorgelegt, wonach durch die Digitalisierung in Deutschland auf längere Sicht rund 60 000 Jobs wegfallen könnten.
Automatisierung kann natürlich Arbeitsplätze kosten. Bisher wurde aber in unseren Fabriken und Büros auch schon rationalisiert und automatisiert. Trotzdem ist es uns gelungen, an den hiesigen Daimler-Standorten die Zahl der Arbeitsplätze zu halten, zum Teil ist die Beschäftigung sogar leicht gestiegen. Voraussetzung dafür ist, dass wir in Deutschland am Wachstum des Weltmarkts teilnehmen und an unseren Standorten höhere Stückzahlen produzieren, hier die Kompetenzzentren für unsere Produkte sind und die Innovationen entstehen. Das war und ist unser Ziel. Dann kann es auch gelingen, dass die Rationalisierungseffekte der Digitalisierung durch Wachstum ausgeglichen werden.
Wenn in der Zukunft alles mit allem digital vernetzt ist, können auch jede Menge Daten gesammelt werden. Wie kann verhindert werden, dass „Big Brother“ in der Fabrikhalle den Beschäftigten ständig über die Schulter schaut und sie total überwacht werden?
Diese Gefahr sehe ich ebenfalls. Deshalb brauchen wir endlich ein Beschäftigten-Datenschutzgesetz. Darin muss der Umgang mit diesen Daten klar geregelt werden. Wir brauchen gesetzliche Sicherheitszäune, damit nicht alles ausgewertet werden darf.