IdeenwerkBW-Schwerpunkt Bauen in der Zukunft (2): Der Architekt als Avantgardist. Tobias Wallisser experimentiert, baut und lehrt in Stuttgart. Innovative Technik gehört für ihn dazu.

Stuttgart - Im „Gestalten von zeitgenössischen Lebensräumen mit einer hohen Qualität für die Nutzer“ sieht Tobias Wallisser seine Aufgabe als Architekt. Der 48 Jahre alte gebürtige Freiburger lehrt an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (ABK), in Rufweite der berühmten Bauhaussiedlung, die 1927 unter Leitung von Mies van der Rohe entstand.

 

Innovative Bau- und Raumkonzepte heißt Wallissers Lehrstuhl. Dabei gehe es einerseits um Konzepte, sagt er, „also auch um Theorien und spekulatives Denken nach dem Motto was wäre, wenn – wie könnten sich Dinge dann entwickeln?“ Andererseits soll das Erdachte realisiert werden. „Es geht ja auch um Baukonzepte, man muss sich somit auch die Werkzeuge erarbeiten, mit denen man seine Ideen umsetzen kann.“ Theorie und Praxis sieht er als gleichwertig an.

Tobias Wallisser: Architektur liegt zwischen Kunst und Technik

„Architektur liegt immer irgendwo zwischen Kunst und Technik“, weshalb der Mann mit mehr als einem Koffer in Berlin das künstlerische Umfeld der ABK als inspirierend empfindet. Zumal er sich weniger als Ingenieur denn als Geisteswissenschaftler versteht, der die modernen technischen Möglichkeiten zu nutzen weiß. „Hier an der ABK geht es um gesellschaftliche Fragen. Wie kann ich digital arbeiten, aber mit der Zielrichtung, gesellschaftlichen Wandel zu beeinflussen oder Themen aufzugreifen, die in der Gesellschaft längst angekommen sind?“ Prinzipiell geht es dem vielfach ausgezeichneten Architekten darum, neue Ideen in zeitgemäße und in die Zukunft gerichtete Formen zu gießen. „Dafür haben wir viel Technik zur Verfügung, die es früher in dieser Form nicht gab und mit der wir Dinge verändern können.“

Die Frage sei heute mehr denn je: Wenn alles möglich ist, was wollen wir eigentlich? Damit untrennbar verbunden ist für Wallisser die Aufgabe, Bedeutung zu schaffen. Denn um zu wissen, was man wolle, müsse man sich zunächst fragen, was relevant ist. Diese philosophische Fragestellung könnten Architekten tatsächlich helfen zu beantworten. „Wir Architekten sind sehr stark visuelle Menschen. Wir können Bilder schaffen und in Räumen denken. Diese Bilder sind eine gute Grundlage für eine gesellschaftliche Diskussion.“

Räume für neue Lebensstile

Tobias Wallisser ist überzeugt: „Wenn sich unsere Lebensstile verändern, brauchen wir auch andere Räume, eine andere Umgebung, die der veränderten Situation angemessen ist.“ Sei es die völlige Neukonzeption einer Schule, die von der Lehranstalt zur Lernlandschaft mutiert, immer ist es genau dieses Gestalten von zeitgenössischen Lebensräumen mit einer hohen Qualität für die Nutzer, das ihn umtreibt. Also Experimentelles nicht um des Experimentellen willen, sondern um im Endeffekt einen funktionalen Mehrwert zu schaffen.

Sowohl an der Hochschule in Stuttgart als auch in seinem Architekturbüro LAVA, das er im Jahr 2007 kurz vor der Weltwirtschaftskrise zusammen mit zwei Kollegen gründete, um dann drei Jahre später richtig durchzustarten, ist der Umgang mit gesellschaftlichem Wandel und technologischen Veränderungen zentral. „Eigentlich weiß keiner genau, was in 20 Jahren sein wird. Denn die technologischen Veränderungen passieren sehr schnell“, so Wallissers Diagnose. Deshalb seien für die Architektur eine Haltung und Methodik wichtig, um diesen Wandel baulich abbilden zu können. Die Werkzeuge dafür seien zweitrangig, sie müsse man sich ohnehin ständig neu entwickeln.

Ein Laboratorium für visionäre Architektur

LAVA steht für Laboratory for Visionary Architecture, also Laboratorium für visionäre Architektur, ist ein echtes Startup. Angesichts der weitverzweigten internationalen Aufträge ist es erstaunlich klein geblieben.

„Wir heißen ganz bewusst Labor. Damit sagen wir, dass das Experimentelle für uns eine Qualität ist. Experimentell ist ja nicht mit risikoreich gleichzusetzen. Bei uns hat ein Experiment einen klar definierten Raum, innerhalb dessen es stattfindet. Was uns dabei fasziniert: Wir arbeiten, ohne dass wir schon ganz genau wissen, worauf der finale Entwurf hinauslaufen wird“, beschreibt Wallisser das innovationsfreudige Vorgehen seines Teams. LAVA setzt sich zwar gerne mit Utopien auseinander, doch bevor Missverständnisse von einem undefinierbaren Chaos entstehen: Sobald es um ein Projekt geht, setzt sich das Labor Leitplanken und Regeln für den eigenen Prozess des Entwerfens und definiert Rahmenbedingungen. „Innerhalb dieses Möglichkeitsraums suchen wir nach Lösungen“, so das Prozedere.

Ihre Inspiration zieht die Architektentruppe nicht zuletzt aus der Beschäftigung mit digitalen Medien, deren Prozessen und Möglichkeiten. Wallisser selbst hat für sein Stipendium in den USA ganz bewusst die Graduiertenhochschule für Architektur, Planung und Erhaltung, GSAPP, der Columbia University New York, eines der für Architekten weltweit renommiertesten Institute, ausgewählt.

Dort nämlich konnte er ein Jahr lang bei den Pionieren des Digitalen Entwerfens lernen. Zu ihnen gehörten einige Vorreiter des digitalen Entwerfens in der Architektur wie Greg Lynn und Hani Rashid. „Damals ging es darum, wie man Computersoftware, die eigentlich für das Erzeugen visueller Effekte in Filmen verwendet wurde, benutzen, um Räume zu schaffen und Architektur neu zu denken.“

Tobias Wallisser ist ein Pionier des digitalen Entwerfens

Die Objekte entstanden in einem Prozess. Wallisser sieht hier die Wurzeln für eine völlig andere Vorstellung von Architektur oder einem Gebäude. Ein Objekt sah ab sofort nicht mehr eindeutig so oder so aus, sondern wurde mit Hilfe des Digitalen zu einer „Momentaufnahme aus einem Transformationsprozess, in dem gewisse Kräfte wirken.“ Dieser Ansatz, den Wallisser als eher kreativen charakterisiert, ist nicht nach wissenschaftlichen Methoden errechnet, wie man sie bislang kannte.

Indem sie eine Realität vorwegnehmen, ähneln Architekten den Designern im Fahrzeugbau. „Wenn man nicht nur eine formale Idee hat, sondern diese auch in einen größeren Kontext einbettet, dann entsteht daraus eine Vision.“ Insofern habe man sich den Luxus geleistet, nicht spezialisiert zu sein. Ein Luxus, weil LAVA mit einer relativ kleinen Truppe von von 40 bis 50 Personen sehr international arbeitet, in unterschiedlichen Klimazonen, in unterschiedlichen kulturellen Umgebungen und dann auch noch an unterschiedlichen Bauaufgaben.

Private Auftraggeber sind mutiger

Wettbewerbe, die kreative Lösungen à la LAVA erlauben, werden nach ihren Aussagen leider zunehmend weniger. Es seien eher private Auftraggeber, die tatsächlich etwas anders denken wollen. Genau nach solchen Aufträgen sucht LAVA.

Nicht alles ist so spektakulär wie der Entwurf von ‚Neom Silver Bay‘, an dem die Architekten derzeit arbeiten. Es ist dies eine Stadtansiedlung innerhalb der Stadt Neom, die nach Willen der saudischen Regierung auf einem Gebiet so groß wie Belgien entstehen soll. Neom Silver Bay soll rund 40000 Menschen aufnehmen und ein Stadtteil ganz ohne Straßen und ganz ohne schienengebundenen Verkehr werden. „Solche Projekte auf dem berühmten weißen Papier sind natürlich ein absoluter Traum“, freut sich Wallisser.

Für Projekte dieser Art hat sich LAVA bereits einen Namen gemacht, weil das Labor für seine Kreativität bekannt ist. „Wir müssen hier versuchen, mit möglichst wenigen Eingriffen in die bestehende Natur gestaltend zu wirken“, nennt er die Vorgehensweise. Hinter allem muss ein überprüfbares ökologisches Gesamtkonzept stehen. Das ist ein sehr hoher Anspruch. Doch der Optimismus ist mit den Kreativen und führt Wallisser zur Aussage: „Wenn man sich mit ungewöhnlichen Projekten beschäftigt, hat man plötzlich ganz neue Möglichkeiten. Das Wichtigste ist, dass man in der Lage ist, diese Chancen oder Potenziale zu identifizieren. Und sie dann auch gestalterisch und später konstruktiv in Gebäude umzusetzen.“

Tobias Wallisser und Lava

Derzeit herrscht ein wahrer Bauboom, allein schon der fehlenden Wohnungen wegen. Jedoch bei gerade mal zwei Prozent allen Bauvolumens seien Architekten involviert, berichtet Wallisser. Er zieht eine scharfe Grenze zur eigenen Disziplin, bei der das Gestalterische die Hauptrolle spielt, solange es machbar ist. In Stuttgart zeugen das Haus der Wissensarbeit des Fraunhofer Instituts und das Mercedes-Benz Museum von Wallissers kreativem Wirken – damals noch als Architekt im UNStudio von Ben van Berkel.

Das Labor LAVA mit Büros in Stuttgart, Berlin und Sydney hat in kurzer Zeit architektonische Ausrufezeichen in der ganzen Welt gesetzt. Hierzulande entsteht der von LAVA entworfene Zukunftsspeicher – ein Energiespeicher für Fernwärme anstelle eines Gaskessels, der mit diesem eher als lästig empfundenen Wahrzeichen nichts mehr gemein hat und die Energiewende architektonisch positiv darstellen will, vor der Vollendung. Die Designnetzfassade als Außenhaut, um die sich eine Treppe winden wird, die gleichzeitig als Fluchtweg dient, hat LAVA zusammen mit Schlaich Bergermann entwickelt. Der Turm mit „Sombrero“ (Wallisser) statt verdunkelnder Jalousien wird oben eine Gastronomie für 180 Personen samt Aussichtsplattform haben und ab Ende 2020 den Blick frei geben über das Heidelberger Schloss.