Kredit gegen Ware: Ein gebürtiger Stuttgarter Gründer stößt bei Liquiditätskrediten für Onlinehändler kreativ in eine von den Banken offengelassene Lücke.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Irgendwo in China ist der Container schon beladen. Doch die lange, mehrwöchige Transportzeit ist eine für viele Start-ups und Online-Händler gerade in der weihnachtlichen Hochsaison gefürchtete Phase. Die Rechnungen der Lieferanten müssen beglichen werden, bevor die Ware überhaupt in Deutschland im Lager landet, geschweige denn verkauft ist. Gerade kleinere Unternehmen geraten da schnell in eine Liquiditätskrise. Die klassische Lösung wäre ein Bankkredit als Überbrückung. „Aber bei solchen Unternehmen können Banken das Risiko nicht einschätzen“, sagt Nikolaus Hilgenfeldt. Das Ergebnis: Entweder exorbitant hohe Zinsen oder gar kein Kredit. „Ich habe bei einem Freund persönlich erlebt, wie frustrierend das sein kann.“

 

Online-Händler haben bei Banken oft keine Chance

In diese Lücke stößt nun ein von dem 33-jährigen, gebürtigen Stuttgarter mit zwei anderen Mitstreitern 2018 in Berlin gegründete Start-up Myos. Der Clou: Beim Verleihen des Geldes stützt man sich nicht auf bankübliche Bewertungskriterien, die auf die oft jungen Firmen nicht passen.

„Wir schauen uns nicht die Händler an, sondern die Produkte, sagt Hilgenfeldt. Myos bewertet bei der Einschätzung der Bonität deren Verkaufschancen und den zu erzielenden Preis. Die Schätzung des Online-Marktwertes von Konsumwaren ist keine Geheimwissenschaft. Es braucht dafür keine Datenbanken. Es reicht, die öffentlich zugänglichen Plattformen von Amazon, Ebay bis Idealo systematisch aufzurufen. Es braucht dafür nur die richtigen IT-Analysewerkzeuge. Danach akzeptiert Myos die Ware als Sicherheit für den Kredit. Das funktioniert wie beim Baukredit, bei dem die Immobile als Sicherheit dient oder wie im Pfandleihhaus, das seine Kredite ja ebenfalls mit einem materiellen Pfand in der Hinterhand vergibt.

Dieses Pfand kann bei Myos ein beliebiges Produkt sein: „Wenn das mal tausend Yogamatten sind, dann akzeptieren wir auch das“, sagt Hilgenfeldt. Zurzeit hat man sogar künstliche Weihnachtsbäume in der Hinterhand. „Wenn der Kredit nicht zurückgezahlt werden kann, dann verkaufen wir die Produkte selbst.“ Auch das ist im Online-Zeitalter einfach geworden. Wichtig ist die Kooperation mit Logistikdienstleistern, denn bei einem Kreditausfall muss der Zugriff auf die Ware sicher sein.

Für kleinere Kredite wird das Prozedere automatisiert

Solche Verkäufe dienten aber nur der Absicherung des Kreditgeschäfts und seien nicht der Kern des Geschäftsmodells, sagt der Myos-Gründer. Bisher habe man Handelsgeschäfte im Volumen von 40 Millionen Euro abgesichert. Nur in zwei Prozent der Fälle habe Myos auf die Absicherung zurückgreifen müssen. Zielgruppe sind bisher Firmen und Gewerbetreibende mit maximal zehn Millionen Euro Jahresumsatz. Das Mindestkreditvolumen liegt zurzeit bei 10 000 Euro. Für kleinere Kredite ab 5000 Euro will Myos das Prozedere künftig automatisieren. 2020 soll das Kreditvolumen dann auf einen zweistelligen Millionenbetrag steigen, erklärt der Gründer.

Für Banken sei diese Art von Unternehmensbewertung ein fremdes Gebiet, zu komplex und wegen der relativ kleinen Summen wenig lukrativ, sagt Hilgenfeldt auf die Frage, warum traditionelle Finanzinstitute hier kein Angebot haben. Schließlich müsse man dafür tief in die Welt des Online-Handels eintauchen. Die Gründer von Myos haben zwar keine klassische Bankerfahrung, kommen aber aus der Finanzierungswelt und haben andere Gründungen hinter sich. Für die eigentliche Kreditvergabe arbeitet Myos mit Partnerbanken zusammen. Die Händler können den Kredit in Tranchen abrufen und flexibel ihre Waren verkaufen. Zahlungspläne und feste Raten gibt es nicht. Sie müssen auch nicht wie bei der Bank mit ihrem Privatvermögen haften.

Es gebe zwar inzwischen auch andere Start-ups, die solche Finanzierungen anbieten: „Aber die sind eher im Bereich virtueller Produkte wie Apps unterwegs“, sagt Hilgenfeldt. Die Produkte zum Anfassen, die Myos zur Absicherung in der Hinterhand hält, sind also auch solchen Digital-Start-ups erst einmal fremd. Berlin und nicht Stuttgart ist der Unternehmensstandort mit inzwischen 30 Mitarbeitern geworden, weil man dort mit der Online-Konsumwelt mehr Erfahrungen hat und einfacher an Personal kommt, besonders auch aus dem Ausland. Bevor der bei den Regularien für Banken zersplitterte europäische Markt ins Visier kommt, hat Myos China im Blick – sozusagen durch die Hintertür. „Hinter einem Drittel der Online- Verkäufe in Europa stehen heute schon Chinesen“, sagt Hilgenfeldt: „Aber wenn wir das vermarkten wollen, werden wir dafür jemanden in China brauchen.“