Viele Migranten tun sich schwer damit, ihre Angehörigen in ein Heim zu geben. Pflegeinseln und kultursensible Wohngemeinschaften sollen Alternativen bieten. Dabei müssen auch Vorbehalte ausgeräumt werden.

Stuttgart - Sermin Can hat ihre demente Mutter zwei Jahre lang gepflegt, Tag und Nacht. Erst als der Hausarzt zu ihr sagte, wenn sie so weitermache, werde ihre Mutter sie noch überleben, zogen Sermin und ihr Mann Ergun Can die Notbremse. Das ist drei Jahre her. Inzwischen ist die Schwiegermutter in einem Pflegeheim der Awo in Möhringen, und die Cans engagieren sich für eine türkischsprachige Pflege-Wohngemeinschaft, die in Kürze in Stuttgart-Rot bezogen wird. „Wir wollen unseren Landsleuten Mut machen, auch loszulassen“, sagt der ehemalige SPD-Stadtrat Ergun Can. Am 15. Januar werden die ersten fünf Bewohner in Stuttgarts erste Pflege-WG für türkischsprachige demente Senioren einziehen. „Das ist ein großartiges Modellprojekt, das es den Bewohnern ermöglichen soll, ihren Alltag so individuell wie möglich zu gestalten und ihre kulturellen und religiösen Bedürfnissen zu leben“, schwärmt Gabriele Reichhardt vom Stuttgarter Sozialamt.

 

Viele Vorbehalte gegen die WG

In der kultursensiblen Pflege-WG werden die Bewohner künftig nur von türkischstämmigen Pflegekräften versorgt. Wer dort arbeiten will, sollte die Grundregeln des Islams kennen. Die Bewohner und ihre Angehörigen haben selbst entschieden, welcher Pflegedienst eingesetzt wird. „In ihrer Demenz fallen die Menschen oft in ihre Kindheit zurück. Sie verstehen dann nur noch Türkisch“, erklärt Aysel Özdemir, die im Auftrag der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) seit Monaten in Moscheegemeinden und türkischen Vereinen für die neue WG wirbt.

Einfach war es für Aysel Özdemir nicht, ihre Landsleute für das Angebot zu gewinnen: „In der türkischen Kultur bist du verpflichtet, auf deine Eltern aufzupassen und sie zu versorgen.“ Deshalb seien ihr die Menschen mit vielen Vorbehalten begegnet. Die Deutschtürkin aber ist überzeugt: „Die Lebensqualität in der Wohngemeinschaft ist hoch.“ Für die Pflege-WG geworben hat auch Ismail Cakir, der Vorsitzende der Türkisch-Islamischen Union (Ditib), Stuttgarts größter Moschee in Feuerbach. „Wir haben das Projekt sogar in der Freitagspredigt vorgestellt“, erzählt Cakir. Auch ihr Imam weise immer wieder darauf hin, dass es mit dem Islam vereinbar sei, die Eltern in Pflege zu geben. „Wir haben nicht mehr die Großfamilien von früher, die es möglich gemacht haben, die Angehörigen selbst zu betreuen“, so Cakir. Aber der Vorsitzende weiß: das Schamgefühl seiner Landsleute ist groß. Wer einen Angehörigen in Pflege gibt, der redet nicht darüber.

Can ist froh über das Angebot

Anders Ergun Can. Er spricht offen über die Schwiegermutter im Heim und hat den Verein mitgegründet, der hinter der neuen Wohngemeinschaft steht. Seiner Schwiegermutter will er keinen weiteren Umzug zumuten, deshalb wird sie voraussichtlich im Heim bleiben. Can aber ist froh, dass es in Stuttgart ein solches Angebot gibt. „Für meine Schwiegermutter war es schwierig, sich in einem deutschen Pflegeheim zurechtzufinden.“ Sie sei regelrecht verstummt, weil es keine Pfleger gebe, die Türkisch sprechen. „Inzwischen redet sie auch mit uns kaum mehr“, so der ehemalige Stadtrat. Den Speiseplan frei von Schweinefleisch zu halten reiche eben nicht aus. „Wir machen niemandem einen Vorwurf, das Personal ist bemüht“, versichert Can, der kultursensible Pflege-WGs für das Modell der Zukunft hält: „Ich will keine rein türkischen Pflegeheime, aber die Wohngemeinschaften sind eine gute Alternative.“

Nach Nationalitäten getrennte Pflegeheime will auch die Stadt Stuttgart nicht. „Das entspricht nicht unserer Vorstellung von Integration“, sagt Gabriele Reichhardt vom Sozialamt. Auch sie sieht in den Pflege-Wohngemeinschaften die Zukunft, weil es sich um eine Form handele, die sich durch ein hohes Maß an Normalität auszeichne und den Angehörigen und Bewohnern viel Mitgestaltung ermögliche. Eine gute Ergänzung dazu sieht sie in der Einrichtung von Pflegeinseln für bestimmte Migrantengruppen in größeren Heimen.

Kontakte mussten erst geknüpft werden

Um genau so eine Pflegeinsel kämpft Jörg Treiber seit acht Jahren im Pflegezentrum Bethanien in Möhringen. Der Heimleiter hat dort einen orthodoxen Wohnbereich eingerichtet und versucht seit Jahren, diesen vorwiegend mit orthodoxen Migranten zu belegen. Treiber hat nicht nur viele Ikonenbilder aufhängen lassen, sondern enge Kontakte mit den russisch-, serbisch-, rumänisch- und griechisch-orthodoxen Gemeinden in Stuttgart geknüpft. Es gibt regelmäßig orthodoxe Gottesdienste in dem evangelischen Pflegeheim, zuletzt wurde an Weihnachten zusammen gefeiert. Für den orthodoxen Bereich hat Treiber Mitarbeiter griechischer und serbischer Herkunft eingestellt. „Wir haben inzwischen genügend zweisprachige orthodoxe Pflegekräfte“, sagt er, „wir brauchen kein Personal in China anzuwerben.“

Treiber hat inzwischen auch genügend Anfragen von orthodoxen Migranten nach Pflegeheimplätzen, sein Problem ist nur: „Weil wir den Wohnbereich in einem bestehenden Heim eingerichtet haben, konnten wir keine Plätze frei halten.“ Anfangs aber sah sich auch Treiber mit einer großen Zurückhaltung der Familien konfrontiert. Die Kontakte zu den orthodoxen Gemeinden mussten erst aufgebaut werden. Jetzt sei das Vertrauen da, aber der orthodoxe Wohnbereich mit seinen 15 Plätzen überwiegend mit deutschen Senioren belegt. „Wir brauchen im ganzen Haus eine Auslastung von 99 Prozent, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Wir konnten nicht warten, bis wir genügend Migranten zusammenhaben, und dann erst starten.“

Dabei ist Treiber von der Pflegeinsel überzeugt. Er erzählt von einem serbischen Bewohner, der im gerontopsychiatrischen Bereich untergebracht war und dort starke Medikamente einnehmen musste, um sein aggressives Verhalten einzudämmen. „Bei der orthodoxen Liturgie in der Gartenkapelle haben wir gemerkt, wie er immer ruhiger wurde.“ Der Mann wurde in den orthodoxen Bereich verlegt, wo er seine Muttersprache auch bei den Pflegern wieder hörte. „Wir konnten die Medikamente daraufhin deutlich reduzieren.“ Was sich Jörg Treiber vor allem wünscht, ist, nicht nur ermunternde Worte seitens der Stadt zu hören, sondern auch finanzielle Unterstützung zu bekommen, zumindest so lange, bis sich der Wohnbereich etabliert habe.