In der arabischen Welt ist der Umgang der Geschlechter durch einen restriktiven Sittenkodex geregelt. Umso rätselhafter und verwirrender erscheint Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die scheinbar totale Freiheit im Westen.

Stuttgart - Selten hat der arabische Mann so viel Aufmerksamkeit erhalten wie in diesen Tagen: „Wer ist er?“, fragt die Wochenzeitung „Die Zeit“. Wie halte ich ihn mir vom Leib?, fragen sich offenbar viele deutsche Frauen und plündern die Pfefferspray-Vorräte deutscher Versandhändler. An jedem Tag finden sich neue Orte, von denen arabisch aussehende Männer verbannt werden, weil man dort ihr schlechtes Benehmen fürchtet: Schwimmbäder, Diskotheken, Clubs.

 

Welches Frauenbild, fragt man sich, hat dieser arabische Mann? Und kann es überwunden werden? Jede westliche Frau, die in einem arabischen Land gelebt hat, weiß, dass diese Fragen schwer zu beantworten sind: Zwischen Syrien, Saudi-Arabien und Marokko, zwischen Akademikern und Analphabeten, zwischen Salafisten und säkular eingestellten Muslimen liegen Welten. Jede Besucherin wird aber zustimmen, dass das Verhältnis zur Frau in allen arabischen Ländern ein Problem darstellt – und dass die westliche Frau dort eine besonders polarisierende Rolle spielt.

Als ich im Herbst 2009 für ein Auslandssemester nach Damaskus aufbrach, hatte ich keine Vorstellung, was mich dort als junge westliche Frau erwarten würde. Im Rückblick kann ich sagen: Ich fühlte mich von syrischen Männern beobachtet, genervt, ja, auch manches Mal bedrängt. Ein entschiedenes „Nein“ wurde aber immer akzeptiert. In eine Situation wie in Köln bin ich in Damaskus nie geraten.

Eine Bugwelle von Begehrlichkeiten

Was mich allerdings störte, ja ärgerte, war die Vorstellung, die hinter vielen Annäherungsversuchen stand: Es ist das völlig verzerrte Bild der westlichen Frau, das mir auf den Straßen offenbar immer vorauseilte. Blonde westliche Frauen kannten die meisten syrischen Männer bestenfalls aus amerikanischen Hollywood-Filmen – schlimmstenfalls als Akteurinnen in einschlägigen Pornoproduktionen. Sie wissen, dass hinter dieser Frau kein Vater und kein Bruder steht, der über die Einhaltung ihrer „Ehre“ wacht. Sie wissen, dass westliche Frauen sexuell frei sind. Warum also nicht sein Glück versuchen?

Ich begriff, dass eine westliche Frau bei ihrem Gang durch die Stadt eine Bugwelle von Begehrlichkeiten vor sich herschiebt, ohne es zu bemerken. In den Augen mancher Männer ist sie fleischgewordene Pornografie, für andere ein Symbol der ersehnten westlichen Freiheit, für manchen eine potenzielle Fahrkarte in Richtung Europa. In jedem Fall stiftet sie Verwirrung, und ein entspannter Umgang mit ihr fällt schwer.

Kein Herantasten

Denn jede dieser Begegnungen spielt sich ab vor dem Kanevas einer zutiefst unbefriedigten Gesellschaft. Die arabischen Länder haben hohe Geburtenraten, die Straßen ihrer Städte sind voller junger Leute, die vor der Ehe keine sexuellen Erfahrungen machen dürfen. Aufgrund von Konflikten und der schlechten ökonomischen Lage steigt das Heiratsalter an. Das sexuelle Verlangen, die natürliche Neugierde auf das andere Geschlecht bleiben so noch länger unterdrückt. In diesen Gesellschaften ist Sexualität nichts, was man austesten, an das man sich herantasten könnte.

Vor allem zu Hause ist die Kontrolle der Familie schier absolut. Der öffentliche Raum bietet so paradoxerweise die beste Gelegenheit für Intimitäten. Und diese eng gefassten Freiheitsräume werden immer aufs Neue ausgelotet, denn all die strengen Regeln bedeuten nicht, dass in arabischen Ländern nicht geflirtet wird – im Gegenteil.

Jeder Blick, jede Geste zählt

Die Neugier auf das unbekannte andere Geschlecht, auf diesen ganzen verborgenen Kosmos der Sexualität ist so gewaltig, dass in der Anonymität des öffentlichen Raumes jede kleinste sich bietende Gelegenheit zur Kontaktaufnahme genutzt wird. Glühende Blicke fliegen von Straßenseite zu Straßenseite, mit leisem Zungenschnalzen wird versucht, die Aufmerksamkeit einer Fremden für sich zu gewinnen, im Linienbus streift eine Hand wie zufällig die andere. Je weniger offener Kontakt erlaubt ist, umso wichtiger wird jeder Blick, jede kleinste Geste. Ein syrischer Freund berichtete mir, wie er und seine Freunde in Verzückung gerieten, wenn sie im Frühling das erste Mädchen mit kurzen Ärmeln auf dem Campus erblickten. „Das war wie die erste Blume nach einem langen harten Winter!“ Es ist kein Wunder, dass die Eingänge zu den Studentenwohnheimen der Universität Damaskus nach Sonnenuntergang verriegelt wurden.

Während jungen Männern ein Übertreten der strengen gesellschaftlichen Grenzen noch verziehen wird, reagiert die Gesellschaft auf Fehltritte von Frauen meist gnadenlos. Selbst der Blick des wilden Verehrers kann sich schnell eintrüben: Hat er erreicht, was er wollte, kann es vorkommen, dass er die nun „Entehrte“ als Ehefrau nicht mehr in Betracht zieht. Die Jungfräulichkeit ist und bleibt ein hohes Gut in der arabischen Welt. Selbst wagemutige Pärchen aus liberalen Kreisen respektieren diese Grenze: „Wir werden intim – aber so weit würde ich es niemals kommen lassen“, erzählte mir eine weltoffene junge Jordanierin, die schon seit vielen Jahren eine heimliche Beziehung zu ihrem Freund pflegt. Viele junge Frauen kultivieren lieber gleich die Rolle der Zurückhaltenden, Unnahbaren – und schaffen einen umso größeren Kontrast zur westlichen Frau.

Freizügigkeit gepaart mit Desinteresse

Was denken diese jungen Männer und Frauen nun, wenn sie in unsere westliche, sexuell übersättigte Gesellschaft eintreten? Viele sind zunächst verwirrt. Einerseits ist Sexualität in dieser fremden Welt omnipräsent, sind der Fantasie scheinbar keine Grenzen gesetzt (wie die westliche Pornoindustrie beweist). Andererseits passiert im öffentlichen Raum erstaunlich wenig: Da legen sich wildfremde Menschen nackt nebeneinander an den Strand oder in die Sauna, mit stoischen Mienen, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Diese Freizügigkeit gepaart mit demonstrativem Desinteresse, mit sexueller Tiefenentspanntheit, ist für manchen Neuankömmling schwer zu durchschauen.

Nach welchen Regeln der Kunst nähert man sich hier an? Wie leben die Menschen ihre offensichtlich unbegrenzte Freiheit aus? Ist das erstrebenswert – oder moralisch verwerflich? Und darf und kann ich als muslimischer Einwanderer das auch?

Dass diese Verwirrung keine Rechtfertigung sexueller Übergriffe auf westliche Frauen darstellt, steht außer Frage. Die ganz überwiegende Mehrheit der Neuankömmlinge würde einer Frau niemals sexuelle Gewalt zufügen – sie wären im Übrigen auch in ihrer Heimat nie auf diesen Gedanken gekommen. Wahrscheinlich ist allerdings, dass die meisten von ihnen viel Zeit brauchen, die freie Lebensart der westlichen Frau zu begreifen – und am Ende so gutzuheißen, dass sie auch ihre Töchter und Söhne in diesem Sinne erziehen.

Auf Dauer siegen die alten Werte

Leider ziehen sich viele Neuankömmlinge, die sich in ihren Heimatländern oft sehr nach der Freiheit des Westens gesehnt haben, nach der ersten Euphorie auf die altbekannten Werte zurück. Es sind die Regeln ihrer Kindheit und Jugend, ihrer Heimat – und oft auch der arabischen Exilgemeinden im Westen, die enormen Druck ausüben können. Es sind Werte, die eine scheinbar größere Klarheit und Reinheit ausstrahlen, als die verwirrende, unkontrollierbare westliche Freiheit.

Und was ist das für eine Gesellschaft, in der zwar jede Form der körperliche Nähe möglich ist, aber doch viele Menschen einsam bleiben? Ein syrischer Bekannter staunte in seinen ersten Monaten in Deutschland über die Reeperbahn, Karneval und deutsche Diskotheken. Einige Monate später fragte er mich, warum die Deutschen es zuließen, dass ihre alten Großeltern die Einkäufe alleine nach Hause trügen. In Syrien hatte er immer von einer deutschen Frau geträumt. Nach drei Jahren in Deutschland heiratete er eine junge Syrerin aus seinem Heimatdorf.

Im harten Individualismus der westlichen Gesellschaft fürchten viele unterzugehen und kehren lieber zurück in den Schoß einer klar geordneten Wertegemeinschaft, in der zwar vieles verboten ist, aber niemand alleine bleibt.