Die Bedeutung sprachlicher und kultureller Vielfalt für die Stadtgesellschaft wird unterschätzt, meint Lokalchef Jan Sellner. Sie sollte mehr gewürdigt werden.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - „In Stuttgart wohnen Menschen aus 170 Nationen.“ Diese Feststellung begegnet einem in Zusammenhang mit der Landeshauptstadt immer wieder. Sie beschreibt einen bekannten Sachverhalt, nämlich dass Stuttgart eine internationale Stadt ist. Gleichzeitig klingt der Satz merkwürdig leblos. Sehr statistisch. Ähnlich wie: Die Wohnfläche je Einwohner beträgt 39,65 Quadratmeter. Rolf Graser, Geschäftsführer des Forums der Kulturen, des Dachverbandes der Stuttgarter Migrantenvereine, weist zurecht darauf hin, dass der Satz einer Ergänzung bedarf, um anschaulich zu werden – etwa den Hinweis, dass in Stuttgart mehr als 100 verschiedene Sprachen gesprochen werden, Beamtendeutsch und Politikersprech nicht mitgerechnet. So gesehen erinnert die Situation an den Turmbau zu Babel. Der Unterschied ist: In Stuttgart sprechen die Menschen verschiedene Sprachen – und verstehen sich. Die meisten jedenfalls.

 

Das Forum der Kulturen, das 1998 in der Absicht gegründet wurde, die kulturelle Vielfalt Stuttgarts abzubilden, ist das beste Beispiel dafür. Es ist ein Sprachrohr für die Anliegen der Migrantenvereine und zugleich ein großes Sprachlabor. Die Hälfte der jungen Stuttgarter wächst mehrsprachig auf. Das ist kein Hindernis für gutes Deutsch, sondern eine besondere Kompetenz. Wie großartig es doch ist, spielend leicht von einer in die andere Sprache wechseln zu können – auch in Dialekte! Das Wort Sprachvermögen drückt diesen Reichtum wunderbar aus. Stuttgart profitiert von der sprachlichen und kulturellen Vielfalt seiner Bürger. Kulinarisch sowieso oder wie es einmal ein junger Schwabe ausdrückte: „Zom Glück gibt’s bei ons au Pizza ond Gyros, sonscht dädet mir emmer bloß uf onserm Roschtbrata romkaua.“

Gemeinsames Anpacken für ein Haus der Kulturen

Ein Ort der Verständigung ist das Forum der Kulturen auch in anderem Sinne. Rund 300 Migrantenvereine haben dort ein ideelles Dach gefunden. Was fehlt ist ein reales Haus mit Begegnungsräumen. Immer noch. Schon seit vielen Jahren wird dieser Wunsch geäußert. Es könnte sein, dass er in Zusammenhang mit einem Neubau des Linden-Museums beim Bahnhof Wirklichkeit wird. Sicher ist das nicht. Mit verständlicher Ungeduld fordert Geschäftsführer Graser von der Stadtverwaltung: „Wir brauchen das Haus der Kulturen jetzt und nicht erst in 30 Jahren.“ Zumal sich das gesellschaftliche Klima eingetrübt hat. Sami Aras, Vorsitzender des Forums, beschreibt die Situation so: „Wir dachten, wir haben es geschafft und kulturelle Vielfalt würde endlich als Bereicherung begriffen. Leider ist der Ruf nach Abschottung und Ausgrenzung lauter geworden.“ Ein schmerzlicher, weil treffender Befund.

Verfehlt ist in dem Zusammenhang die indirekte Kritik von Sozialbürgermeister Werner Wölfle am katholischen Stadtdekan Christian Hermes. Dieser hatte es abgelehnt, ein Werk des Komponisten Karl Jenkins im Kirchenraum aufzuführen, weil darin der Ruf eines Muezzins ertönt. Theologische Überlegungen gaben den Ausschlag. Darüber kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Ein Indiz für Integrationsdefizite, wie Wölfle nahelegt, ist die Absage aber nicht. Gerade die Kirchen tragen wesentlich stark zur gelingenden Integration bei.

Gemeinsames Anpacken für ein Haus der Kulturen und mehr gegenseitiger Respekt, das wäre das richtige Zeichen zur rechten Zeit. Wir alle sind Stuttgart!

jan.sellner@stzn.de