Für die Zerschlagung des Ölriesen Yukos soll Russland eine Rekordentschädigung von 50 Milliarden Dollar an die früheren Aktionäre zahlen. Selbst für das reiche Land ist das ein harter Brocken.

Stuttgart - Das Internationale Schiedsgericht in Den Haag hat den russischen Staat zu Schadenersatzleistungen in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar (37,2 Milliarden Euro) verpflichtet. Das Urteil dürfte Geschichte machen: nie stand bisher ein derartig hoher Streitwert zur Disposition – und nie war ein Schiedsverfahren politisch derart aufgeladen.

 

Geklagt hatte die GML Holding, in der 60 Prozent der früheren Anteile des einst größten Ölkonzerns der Welt gebündelt sind. Der Schiedsgerichtshof habe beim Vorgehen Moskaus politische Motive ausgemacht, sagte GML-Chef Tim Osborne in London. Es sei der russischen Führung nicht um Steuernachzahlungen gegangen, sondern darum, „den Bankrott zu beschleunigen, damit der Staat über Rosneft davon profitiert“. An den Schiedsgerichtshof hatten sich zwei Tochterfirmen von GML gewandt sowie ein Pensionsfonds für frühere Yukos-Mitarbeiter. Sie forderten insgesamt mehr als 100 Milliarden Dollar – das Vierfache ihres ursprünglichen Investments. Obwohl das Gericht den Ex-Yukos-Aktionären deutlich weniger Entschädigung zuerkannte, sprach GML-Anwalt Emmanuel Gaillard von einem „großen Tag für die Rechtsstaatlichkeit“.

Auch der mittlerweile in der Schweiz lebende Kreml-Gegner Michail Chodorkowski begrüßte die Entscheidung des Schiedsgerichts. „Es ist fantastisch, dass den Yukos-Aktionären eine Chance auf Schadenersatz gegeben wird“, sagte er und verwies darauf, dass er selbst nicht von dem Richterspruch profitiere.

Chodorkowski, der die Opposition finanziell unterstützt und den Geschäftsinteressen der Freunde von Kremlherrscher Wladimir Putin in die Quere gekommen war, hatte einst die Mehrheit der Anteile an dem privaten Ölförderer Yukos gehalten. In einem umstrittenen Verfahren wurde er 2005 wegen Steuerhinterziehung in besonders schwerem Ausmaß zu neun Jahren Haft verurteilt; auf Yukos kamen Nachforderungen der Steuerbehörde von fast 20 Milliarden Dollar zu.

Selbst für das reiche Russland ein harter Brocken

Der Konzern war pleite, seine Filetstücke kamen weit unter Marktwert unter den Hammer. Das Kronjuwel – den Öl- und Gasförderer Juganksneftegas – ersteigerte über Strohmänner 2006 der Staatskonzern Rosneft. Chodorkowskis Juniorpartner sprachen von Enteignung und zogen vor den Kadi. Die Summe, die ihnen gestern in Den Haag zugesprochen wurde, entspricht in etwa dem, was die Olympischen Winterspiele in Sotschi kosteten, und ist selbst für ein reiches Land wie Russland ein sehr harter Brocken. Zumal in diesen Zeiten: Die eiserne Reserve, die in Russland „Fond für Nationalen Wohlstand“ heißt, haben Kreml und Regierung schon 2009, auf dem Höhepunkt der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, geplündert. Dabei sollte sie eigentlich künftige Generationen absichern, wenn die Einnahmen aus Rohstoffexporten versiegen. Dort sind umgerechnet 64,8 Milliarden Euro geparkt, die bereits weitestgehend verplant sind: für die Integration der Krim, die Förderung strukturschwacher Regionen wie Russisch-Fernost, die Erschließung der Arktis oder die Umrüstung sowie Modernisierung der Streitkräfte – und für die Fußball-WM 2018.

Angesichts der drohenden westlichen Sanktionen aufgrund der russischen Ukraine-Politik hatte die stellvertretende Finanzministerin Tatjana Nesterenko Steuererhöhungen schon Ende vergangener Woche für „unvermeidlich“ erklärt. Bisher haben Putins Kassenwarte allerdings nur eine Reichensteuer geplant: Wer monatlich mehr als eine Million Rubel, umgerechnet rund 23 000 Euro, verdient, soll statt bisher 13 künftig 30 Prozent Einkommensteuer entrichten. Vage war auch von einer Anhebung der Mehrwertsteuer von derzeit 18 auf 20 Prozent die Rede. Doch der Aderlass sollte erst nach den Präsidentenwahlen 2018 wirksam werden. Harte westliche Sanktionen könnten eine Vorverlegung des Termins und sogar Abstriche bei den Sozialleistungen erforderlich machen; die Maßnahmen würden im schlimmsten Fall vor den Parlamentswahlen Ende 2016 greifen.

Moskau kann sich kaum noch wehren

Mit der komfortablen absoluten Mehrheit der Regierungspartei „Einiges Russland“ in der Duma wäre es dann vorbei, und das bliebe nicht folgenlos für die Präsidentenwahlen. Durch das Yukos-Urteil, glauben Experten, seien weitere Einschnitte nötig: eine Erhöhung der Körperschaftssteuer etwa und sogar eine Sonderabgabe für die Yukos-Leichenfledderer – und damit für Putins Amigos. Mit deren Loyalität aber steht und fällt das derzeitige politische System in Russland.

Außenminister Sergej Lawrow kündigte an, sein Land werde „alle rechtlichen Optionen ausschöpfen, um seine Position zu verteidigen“. Viele sind das nicht. Die Schiedssprüche der Haager Juristen sehen eigentlich keine Berufung vor. In extremen Ausnahmefällen gibt es die Möglichkeit eines Annullierungsverfahrens; dafür müssten elementare Fehler im bisherigen Verlauf des Verfahrens erkenntlich gewesen sein.

Das gilt als unwahrscheinlich. Eine Möglichkeit, die Zahlung quasi durch die Hintertür zu verzögern, gebe es aber, sagt Stefan Oeter, Völkerrechtsprofessor und einer der deutschen Schiedsrichter in Den Haag. Sollte Russland nicht freiwillig zahlen, müsse der Schiedsspruch in einen Vollstreckungstitel umgewandelt werden. Das könne in jedem Land geschehen, in dem russische Vermögenswerte lagern. Grundsätzlich sei so ein Vollstreckungstitel mit dem Schiedsspruch in der Hand leicht zu bekommen, sagt Oeter, „aber dann eröffnet sich der Rechtsweg gegen eben diesen Titel“. Dafür zuständig seien die Gerichte in dem Land, in dem die soeben obsiegende Partei ihr Geld einfordern wolle.

Ein Urteil mit großer Sprengkfraft

Experten verweisen in diesem Kontext auf den Rechtsstreit Moskaus mit dem Genfer Handelshaus Noga. Dieses hatte Russland Mitte der 1990er Jahre wegen Nichterfüllung von Kompensationsgeschäften beim Internationalen Schiedsgericht in Stockholm verklagt und Entschädigungen von 506 Millionen Euro zugesprochen bekommen. Moskau wollte nicht zahlen, weshalb die Eidgenossen die Regierung jahrelang mit einstweiligen Verfügungen zur Beschlagnahme von russischen Liegenschaften und anderen Vermögenswerten im Ausland piesackten. Erst 2006 kam es zu einem Vergleich.

In der Yukos-Affäre könnten die Konfliktparteien noch schwerere Geschütze auffahren. Weil es um politisches Prestige und fast das Hundertfache des Noga-Streitwertes geht. Und damit um eine Summe die langfristig die gleiche Sprengkraft entwickeln könnte, wie der Hochrüstungsbeschluss, der einst die Sowjetunion in die Knie gehen ließ.

Der Schiedshof in Den Haag

Besonderheit Der ständige Schiedshof (PCA) in Den Haag (engl: Permanent Court of Arbitration) ist kein Gericht im klassischen Sinn. Er bietet Parteien die Struktur, um einen Streit ohne ordentliche Gerichte beizulegen. So gibt es eine Liste, in der jedes der 115 Länder, die den Gerichtshof anerkennen, mehrere Juristen aufführt, die als mögliche Schiedsrichter in Frage kommen. Im Streitfall sucht sich jede Partei ein Drittel der Schiedsrichter aus. Das letzte Drittel wird von den bereits Bestimmten festgelegt.

Geschichte Der Schiedshof geht auf die Haager Friedenskonferenz von 1899 zurück und hat seit 1900 seinen Sitz in Den Haag. Ursprünglich war er dazu da, Streitigkeiten zwischen den Staaten zu regeln. In der jüngeren Vergangenheit haben die Fälle mit wirtschaftlicher Beteiligung stark zugenommen. Der Schiedshof steht somit in einem Konkurrenzverhältnis zu den Schiedsgerichten der Weltbank oder der Internationalen Handelskammer in Paris.